: Der Bart ist ab
KLASSENKAMPF Karl Marx ist nur was für Altlinke? Stimmt nicht, sagen Lucia Schnell und Martin Bender. Beide lassen nichts auf den Urvater der Kapitalismuskritik kommen – und arbeiten mit ihm: Schnell in der Linken, Bender in der Antifa. Sie stehen für eine Renaissance linker Theoriearbeit
■ Vor 94 Jahren wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Im Gedenken an die Sozialisten geht die linke Szene am Sonntag wieder auf die Straße – diesmal aber zum ersten Mal zweigeteilt: Die traditionelle LL-Demo beginnt wie eh und je um 10 Uhr am Frankfurter Tor und endet ander Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Friedhof Friedrichsfelde. Hier laufen Linkspartei, DKP und diverse marxistische Gruppen mit.
■ Ein Bündnis u.a. aus Jusos, Falken, Solid und DGB-Jugend hält diesen Aufzug für zu gestrig. Sie kritisieren, dass dort Stalinismus und Maoismus verherrlicht würden, obwohl diese auch für Gewaltverbrechen verantwortlich seien. Dies sei„mit linker, emanzipatorischer Politik nicht vereinbar“, heißt es in einem Aufruf.Ihre „Rosa&Karl“-Demo beginnt um 11 Uhr auf dem Olof-Palme-Platz an der Budapester Straße nahe dem Bahnhof Zoo und zieht durch den Tiergarten, wo Liebknecht von rechten Freikorps ermordet wurde. Nationalfahnen und Porträts „ ‚sozialistischer‘ Diktatoren“ sind verboten. Organisatoren des traditionellen Aufzugs kritisieren die Gegenaktion als Spaltung. Eine Stalinverehrung sei auch auf ihrer Demo nicht erwünscht. Das Einzelne dies tun, könne man nicht verhindern. (taz)
VON KONRAD LITSCHKO
Als Martin Bender vor ein paar Monaten im Kreuzberger Café Kotti saß, hockte neben ihm David Graeber. Der Londoner Anthropologe und Occupy-Vordenker war gerade mit seinem Buch über die Schuldenkrise in Berlin. Bender wollte ihn für eine Marx-Veranstaltung gewinnen, Graeber zeigte sich interessiert.
An diesem Morgen sitzt Bender wieder im Café Kotti, einem linken Refugium auf der Empore des Neuen Kreuzberger Zentrums. Er blättert durch Zeitungen. Auch Bender hat sich wie Graeber mit Schulden befasst: elf Jahre lang, während er seine Dissertation an der Freien Universität (FU) Berlin schrieb über Marx und dessen Begriffe von „Geld, Maß und Zeit“. „Im Grunde“, sagt Bender, „habe ich mich die letzten 20 Jahre mit kaum etwa anderem beschäftigt als mit Marx.“
Martin Bender sieht nicht so aus, wie man sich das vielleicht vorstellt. Der 40-Jährige wirkt trotz seiner angegrauten Haare jugendlich, er trägt Jeans und Lederjacke. Wenn er spricht, merkt man, dass er oft Dinge erklärt. Er redet klar und locker, nicht wie ein entrückter Bücherwälzer. So etwa wie einige derjenigen, die am Sonntag wieder auf die Straße gehen. Dann, wenn Linksbewegte mit ihrer jährlichen Luxemburg-Liebknecht-Demo zum Friedhof der Sozialisten ziehen, nicht wenige mit Marx- oder Lenin-Fahne über der Schulter.
Früher war auch Martin Bender dabei. Heute sind ihm die, die dort mitlaufen, „zu spooky“. Der Marxismus dagegen hat für Bender nichts an Aktualität eingebüßt. „Er bleibt die radikalste, umfassendste Kritik des Kapitalismus.“
Bender hat seine ersten „Kapital“-Texte als Jugendlicher in der Antifa gelesen, noch in seiner Heimat Göttingen. Später ging er nach Berlin, studierte Soziologie. Heute organisiert er hier die jährliche Marx-Herbstschule mit. Im Oktober beschäftigten sich dort 150 Leute ein Wochenende lang mit Marx’ Theorie der „ursprünglichen Akkumulation“, mit dem Ursprung des Kapitalismus; Bender moderierte.
Sein Gesicht will er trotzdem nicht in der Zeitung sehen, seinen richtigen Namen auch nicht. „Wer weiß, was sich die Polizei wieder einfallen lässt“, sagt er. Denn Bender ist weiter in der Antifa aktiv, bei der Gruppe „Theorie Organisation Praxis“, kurz TOP. Die hat auch der Verfassungsschutz im Visier. Die Antifa-Arbeit ist Bender wichtig. „Theorie ist eine Form von Praxis, das sagte schon Marx.“
Martin Bender ist in Berlin nicht allein: Die Theorien von Marx und seinen Nachfolgern sind in der Stadt beliebt wie lange nicht. „Kapital“-Lesekreise erfreuen sich wachsenden Zulaufs, zu den Konferenzen „Marx is’ Muss“ und „Rethinking Marx“ strömten Hunderte Besucher. Als die internationalen Stars der Theoretikerszene, Slavoj Zizek, Alain Badiou und Antonio Negri, in der Volksbühne sprachen, war diese heillos überfüllt. Auch David Graeber im Admiralspalast hörten mehrere hundert Menschen, die Fragen stellte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Nur Graebers Veranstaltung mit Bender kam nicht zustande. Der Theoretiker hatte zu viel zu tun.
„Das Interesse an Marx ist groß“, sagt der linke Publizist Ingo Stützle, der selbst „Kapital“-Kurse gibt. Seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 seien seine Lesekreise „völlig überlaufen“, zu manchen kämen schon mal 100 Leute. Vor Stützle sitzen dann Studenten, viele Frauen, auch Ältere, die ihre Marx-Lektüre „auffrischen“ wollten. „Ich dachte, das würde bald wieder abebben“, sagt der 36-Jährige. „Aber die Nachfrage ist gestiegen.“ Der Politologe erklärt sich das mit dem Interesse, die andauernden Wirtschaftskrisen zu erklären. „Wer daran profunde Kritik üben will, muss das System verstehen.“
Nicht anders sieht das Lucia Schnell. Dass sie nahe der Neuköllner Karl-Marx-Straße wohnt, sei wirklich nur Zufall, sagt die junge Frau und lacht, als sie im benachbarten Café Rix eintrifft. Sie lässt die Tasche mit „Linke“-Aufdruck auf die Bank plumpsen und bestellt Apfelkuchen. Auch Schnell ist Marxistin, wie sie selbst sagt. Und im Vorstand der Neuköllner Linkspartei.
Die 33-Jährige redet in raschem Tempo, ihr ernster Blick wird immer wieder durch ein Lachen gebrochen. Wenn sie Marx zitiert – und das tut sie oft –, dann gern den Satz, dass Geschichte durch den Menschen gemacht werde. „Es bringt nichts, auf die Revolution zu warten“, so Schnell. „Wir müssen sie selbst in die Hand nehmen, mit dem Kampf um konkrete Verbesserungen heute.“ Sie selbst hat sich dafür entschieden, das in der Linkspartei zu tun. 2004 trat sie in die WASG ein, später gehörte sie zu den Befürwortern einer Fusion mit der Linken. Heute arbeitet sie im Bundestag für deren Abgeordnete Christine Buchholz. Dass selbst wochenlange Montagsdemos Hartz IV nicht verhindert haben, habe ihr gezeigt, dass es eine Alternative zur SPD brauche, sagt Schnell. „Eine parlamentarische Gegenmacht, die unsere Argumente hörbar macht.“ Vom Mitregieren hält sie indes wenig.
Zu Marx kam Schnell früh. Als in ihrer Heimat Freiburg Bildungsausgaben gekürzt werden sollten, besetzte die Gymnasiastin 1997 mit Mitschülern das Schulamt. Da habe sie erstmals „ein Gefühl für Massenbewegung“ bekommen. Fortan machte sie außerparlamentarische Bildungspolitik, las neben der Uni Marx. Vorher schon, erzählt die Tochter zweier Achtundsechziger, sei sie „Antikapitalistin aus dem Bauch heraus gewesen“. Die Welt retten, irgendwie.
Auch Schnell studierte an der FU – Politik, Geschichte und Lateinamerikanistik. Heute gehört sie zum bundesweiten Koordinierungskreis bei „marx21“, einem Netzwerk aus Marxisten und Trotzkisten in der Linkspartei. Auch denen wirft der Verfassungsschutz vor, an der „Systemüberwindung“ zu arbeiten. „Damit liegt er richtig“, sagt Schnell. „Ich will eine bessere, eine sozialistische Gesellschaft.“
In ihrem Bundestagsbüro hängen linke Demoplakate, bei der Arbeit trägt sie auch mal „Antikapitalista“-Shirts. Zu Hause steht Marx’ „Kapital“ im Regal. Das hört man, wenn Schnell über ihre Politik erzählt. Dann spricht sie von „sozialen Kämpfen“ oder der „Klassengesellschaft“, die ihre Spaltung nach Herkunft, Geschlecht oder Religion überwinden müsse. „Nur mit größtmöglicher, internationaler Einheit der Arbeiterbewegung werden wir etwas erreichen.“
In diesen Momenten erwartet man nicht, dass Schnell zugleich sehr pragmatisch sein kann. In der Neuköllner Linkspartei prüft sie auch mal die Kasse. Sie organisiert Demos gegen Rassismus mit, sammelt Unterschriften gegen die Bebauung des Tempelhofer Felds. Mit Neuköllner Jugendlichen stürmte sie das Bezirksrathaus, als der Etat für Jugendarbeit gekürzt werden sollte. Dass SPD-Polterer Heinz Buschkowsky daraufhin einknickte, freut sie noch heute. Auch auf der LL-Demo ist sie dabei, der traditionellen. Weil, wie sie sagt, das Gedenken an revolutionäre Geschichte wichtig sei. „Marxismus darf nicht der Salonpflege dienen, sondern der gesellschaftlichen Veränderung.“
Lucia Schnell und Martin Bender stehen für eine neue Generation von Marx-Theoretikern: jung, undogmatisch, praktisch engagiert. Unbelastet von den alten Ideologieschlachten um richtige Lesarten. Sie suchen sich ihre Nischen, in denen ihnen genug Zeit bleibt, nebenher Theorie zu lesen und sie umzusetzen. Schnell findet sie in der Parteiarbeit, Bender im Uni-Betrieb, bei dem er sich von Projektstelle zu Projektstelle hangelt, nebenbei verdient er Geld als Komparse für Fernsehserien. „Weil man da beim Warten viel lesen kann“, sagt er und schmunzelt.
Für Autor Ingo Stützle sind das typische Lebensläufe: Er spricht von einem „Theorieprekariat“. „Mit Marx macht in Deutschland keiner mehr Karriere.“ Hätten früher noch die Universitäten Marx-Lesekurse angeboten, müssten die Studenten das heute selbst organisieren. Für die Hochschulen, so Stützle, sei der Marxismus als „gestrig“ abgehakt und passe nicht ins neoliberal geprägte Lehrbild.
Grabenkämpfe sind vorbei
Institutionell gibt es in Berlin für Marx-Leser nur noch einen Anlaufpunkt: die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Friedrichshain, die der Linkspartei nahesteht. „Marx wird verkannt, dabei ist er hochaktuell“, sagt dort Sabine Nuss, Leiterin für politische Kommunikation. Allwöchentlich werden in ihrem Haus „Kapital“-Kurse angeboten, auch der von Stützle, dazu Diskussionen. Nuss lobt die jungen Neomarxisten. „Gerade wegen dieser nachwachsenden Generation, die offen und ohne die früheren Grabenkämpfe an die Theorie rangeht, erlebt Marx einen Aufschwung.“
Die haben längst auch neue Spielarten der alten Theorie hervorgebracht. Bereits vor zwei Jahren organisierten Berliner AktivistInnen eine „queerfeministische“ Konferenz zur Ökonomiekritik. Auch bei den Gender Studies oder im Postkolonialismus hat Marx Einzug gehalten.
Gestrandete Radikale
Martin Bender beobachtet zudem eine Internationalisierung des Diskurses. Als er im August eine „Summer School“ zu Marx mitorganisierte, auf Englisch, kamen Spanier und Griechen. Wenig später entstand auch an der Luxemburg-Stiftung ein erster spanischer „Kapital“-Kurs. Bender spricht von „gestrandeten radikalen Intellektuellen“, von den Krisen in ihren Ländern nach Berlin gespült, hier nach Antworten auf den Kollaps suchend. Dass sie diese bei Marx finden, hat auch mit Vordenkern wie Zizek zu tun, die ihre Thesen über Ländergrenzen tragen, sodass sie international diskutiert werden.
Publizist Stützle sieht hier allerdings auch eine Fragmentierung: Viele Szenen würden „für sich, statt miteinander diskutieren“. Auch Martin Bender und Lucia Schnell legen Marx nicht gleich aus. Bender schätzt den Philosophen als scharfen Analytiker und Kritiker des Kapitalismus. Mit alternativen Gesellschaftsentwürfen sieht er dessen Theorie „überfordert“. „Ich bin schon mit vernünftiger Kritik zufrieden.“ Schnell will mehr. Gerade das Denken von Alternativen, sagt sie, fasziniere an Marx. „Dass er einen Weg zur Überwindung des Kapitalismus aufzeigt.“
Die unterschiedlichen Lesarten übersetzen sich auch in beider Politik. Ein Parteieintritt, sagt Bender, komme nicht infrage. Mit seiner Gruppe beteiligt er sich an Bündnissen, nicht aber „um jeden Preis“, vor allem nicht, wenn die eigene Kritik verwässert würde. Schnell sucht dagegen den Zusammenschluss, so breit wie möglich. „Wir brauchen keine pure Bewegung, sondern eine schlagkräftige.“
Für Glaubenskriege wie einst reichen diese Differenzen freilich nicht mehr. Als Linke letztes Jahr in Frankfurt am Main demonstrierten, gegen die Bankenmacht und deutsche Kürzungspolitik, waren Schnell und Bender gemeinsam auf der Straße.
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