: Berlinerinnen, Blicke
(SELBST)INSZENIERUNG Der Fotograf Ashkan Sahihi zeigt in der Galerie im Körnerpark Porträtaufnahmen von insgesamt dreihundert Berlinerinnen – das Werk erinnert an August Sanders typologisierende Aufnahmen
von Julika Bickel
Kersten Möbius sitzt am Küchentisch, in einer Hand hält sie eine Zigarette. Vor ihr liegt ein Berliner Kurier, dessen Titelblatt eine Charlie-Hebdo-Karikatur zeigt. Die Frau, die beruflich „einen großen Gelben“ fährt, blickt ihre Betrachterinnen und Betrachter müde an, ihre Haare sind zerzaust. Sie lächelt zufrieden. In einem anderen Porträtfoto kniet eine Frau auf dem Boden. Ihre Hände liegen auf ihrem Schoß. Sie trägt ein buntes Kopftuch. Die 31-jährige Kultur- und Religionswissenschaftlerin schaut einen an und ist doch in sich gekehrt. In ihrem Steckbrief schreibt sie: „Berlin ist Heimat, Kindheit, Fremde, Freunde, Identität & Krise, Neubeginn & Zukunft.“
375 Berlinerinnen hat der Künstler Ashkan Sahihi besucht und fotografiert. Mit dem feministischen Projekt „Die Berlinerin – Das Porträt einer Stadt“ sind ihm intime Momentaufnahmen von ganz unterschiedlichen Frauen gelungen. Er wählte ausschließlich Frauen aus, weil nach seiner Überzeugung sie es sind, die heute verstärkt einflussreiche Positionen erobern. Die Neuköllner Galerie im Körnerpark zeigt jeweils 100 Porträts in drei Monatsetappen. Die Fotografien sind nach Kategorien wie Frau aus dem Mittelstand, Künstlerin und Frau in Uniform geordnet. Neben jedem Porträt hängt ein Fragebogen. In ihm konnten sie Auskunft über ihren Namen, ihr Alter, ihren Kiez, Beruf und Geburtsort geben. Zudem verrät der Steckbrief etwas über das Verhältnis der Person zu Berlin und zum Leben. „Ach Berlin, ick liebe dir“, schreibt eine Bestatterin. Und: „Das Leben und der Tod, zwei Seiten einer Münze.“
Der Gang durch die Ausstellung macht Spaß, weil Sahihi mit Klischees sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmung spielt. Einige Bilder bestätigen Stereotype, andere brechen sie auf. Die grauhaarige Lady aus Grunewald passt gut zu den gängigen Vorstellungen einer „gut situierten Frau“. Das Porträt einer Berlinerin fällt hingegen auf, weil sie die Einzige der Kategorie „Mutter“ ist, die sich ohne Kind ablichten ließ. Mit ihr assoziiert man wohl eine Geschäftsfrau. Die Frauen bestimmten selbst, wie sie sich präsentieren: Sie wählten den Ort und ihre Kleidung. Manche trieben dies bis zur Perfektion. Bei einer Kulturschaffenden liegen ein Buch und ein Stift auf dem Tisch, ernster Blick, die Hände gefaltet. Die Selbstinszenierung verrät viel darüber, wie eine Personen gesehen werden will.
Sahihis Projekt „Die Berlinerin“, das er auch als 848 Seiten starkes Buch veröffentlicht hat, erinnert an August Sanders Klassiker „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Sander begann 1910, Menschen zu fotografieren – zunächst in seinem Heimatort Herdorf im Siegerland, später auch in Köln. 1929 veröffentlichte er 60 Porträts in seinem Buch „Antlitz der Zeit“, das fünf Jahre später von den Nazis verboten wurde. Sein Sohn veröffentlichte die Porträtsammlung im Jahr 1980.
Gemeinsam sind den Projekten die Kategorien. Bei Sander kamen die sieben Gruppen, zum Beispiel „Der Bauer“, „Die Frau“ und „Die Stände“, erst im Verlauf des Projekts hinzu, bei Sahihi bildeten sie den Ausgangspunkt. Er wählte 35 Suchbegriffe aus, wie Beruf, Alter, Milieu und Herkunft. Über verschiedene Institutionen fand er seine Fotomodelle. Die Bezeichnung „Berlinerin“ fasst er weit: Die Frauen, mit denen er sich von September 2013 bis August 2015 traf, sind zum Teil in Berlin geboren, andere wohnen erst seit Kurzem in der Hauptstadt. Ein Suchbegriff lautet „Touristin“.
Ashkan Sahihi selbst ist 1963 in Teheran geboren und kam im Alter von sieben Jahren nach Deutschland. 1987 zog er nach New York und fotografierte für Magazine wie das ZEITmagazin, den Spiegel und den New Yorker.
Sowohl Sander wie auch Sahihi wollten die Persönlichkeiten ihrer Modelle möglichst authentisch in ihren Fotografien festhalten. Sahihi fotografierte mit einer einfachen Digitalkamera bei natürlichem Licht. Die Bilder bearbeitete er nur minimal nach und beschnitt sie nicht. Sander notierte: „Mit Hilfe der reinen Photographie ist es uns möglich, Bildnisse zu schaffen, die die Betreffenden unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie wiedergeben.“ Dies bleibt wohl eine Wunschvorstellung, denn ein Porträt stellt immer nur einen Versuch dar, ein Individuum in all seinen Facetten zu erfassen. Eine Aufnahme zeigt lediglich einen Augenblick aus der Perspektive des Fotografen. Die Steckbriefe bilden bei der „Berlinerin“ daher eine gute Ergänzung zu den Fotografien. Der ins Leere gleitende Blick der Frau aus Sierra Leone erhält eine dramatische Bedeutung, wenn man liest: „I lost my only child in Berlin.“
„Die Berlinerin – Das Porträt einer Stadt“ von Ashkan Sahihi. Bis 10. Januar 2016 in der Galerie im Körnerpark. Vernissage II: Dienstag, 10. November, 19 Uhr. Vernissage III, Dienstag, 8. Dezember 2015, 18 Uhr
Ashkan Sahihi: „Die Berlinerin“. Distanz Verlag, Berlin 2015, 848 Seiten, 49,90 Euro
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