Flüchtlingshilfe bei Wiener Festival: Das Beste, was passieren konnte
Ein Stadtplaner-Festival in Wien wird zum Flüchtlingscamp. Und aus der Theorie der Kooperation wird spannende Praxis.
Und so entstand eines der eigentümlichsten Projekte in diesen Wochen der „Flüchtlingswelle“ – ein Flüchtlingshaus, in dem Stadttheorie, Kunst, architektonische Praxis und humanitäre Hilfe zusammenwuchsen.
Elke Rauth ist zusammen mit Christoph Laimer Leiterin des Festivals „Urbanize“, eines Projekts gesellschaftskritischer Stadtplaner und -theoretiker rund um die Zeitung Dérive. Dieses Jahr sollten sie ein leeres Bundesgebäude in der Vorderen Zollamtsstraße in Wien bespielen, da, wo der dritte Bezirk in die Innere Stadt übergeht. Nur einen Steinwurf entfernt ist die Universität für Angewandte Kunst, zum Stadtpark sind es bloß ein paar Meter weiter, die Redaktion der Tageszeitung Der Standard ist quasi im Nebenhaus. Fünf Stockwerke hat das Haus, das Erdgeschoss sollte Ausstellungsort, Begegnungszone, Raum für Workshops und Theoriedebatten sein. Doch dann kamen täglich bis zu 10.000 Flüchtlinge über die Grenze, und sie mussten alle irgendwo untergebracht werden. Oft nur für ein, zwei Tage.
„Ich versuch‘ hier gerade einen Dienstplan zu schreiben“, sagt Martina Burtscher und beugt sich über ein großes Poster mit vielen Linien und Kästchen. Bis vor Kurzem hat die junge Vorarlbergerin für das Rote Kreuz in Flüchtlingslagern im Irak gearbeitet, jetzt ist sie die Einsatzleiterin dieses Notquartieres in der Innenstadt. 1.200 Feldbetten hat die Rettungsorganisation in den fünf Etagen aufgebaut. Mal platzt das Haus aus allen Nähten (bis zu 1.500 Leute können sich im Extremfall reinquetschen), mal sind nur 300 Flüchtlinge im Haus. Martina Burtscher hat tausend Dinge zu tun und dennoch alles im Griff. Schon wieder so eine tolle Heldin, wie man sie in diesen Tagen immer wieder trifft, denke ich.
Freiwillige Helfer
Dass überhaupt irgendetwas funktioniert, ist den vielen hundert freiwilligen Helfern zu verdanken. Wir stehen im Büro der Einsatzleiterin. In einem Vorraum sitzen Flüchtlinge und warten auf ihre erste, provisorische Registrierung – damit man überhaupt weiß, wer und wie viele Leute hier sind. „Ich kenne Sie aus dem Kreisky-Forum“, sagt ein Mann zu mir. Er ist aus dem Iran und hat sich als Farsi-Übersetzer zur Verfügung gestellt.
Eine Minute später kommt eine Kollegin vom Standard mit ihrem Sohn zur Tür herein. Sie wird heute hier die Nachtschicht übernehmen, erzählt sie. Paula läuft vorbei – sie ist die Freundin meines Freundes Joachim, der vor ein paar Wochen zwei Tage in Bayern in Untersuchungshaft saß, weil er Refugees von Wien nach Passau chauffierte. Ein großes „Hallo, du auch da?“ ist das. Irgendwie schräg, denke ich mir – du sitzt im Flüchtlingsheim und kennst fast jeden.
Richard Berk ist Soziologe und Statistiker. Er sagt, seine Algorithmen könnten bei der Geburt herausfinden, ob ein Kind einmal ein Verbrecher werde. Wie berechenbar sind Menschen? Die Titelgeschichte „Wird dieses Kind ein Mörder?“ lesen Sie in der taz. am wochenende vom 24./25. Oktober. Außerdem: Heini Rudeck fällt das Gehen schwer. Trotzdem besucht er das Grab seiner Freundin täglich. Er setzt sich einfach an den Computer. Und: Klaus von Dohnanyi veröffentlicht die Briefe seines Vaters aus der Gestapo-Haft. Ein Gespräch. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Mohammed, ein pensionierter Kunst- und Religionslehrer aus der Steiermark, der hier auch als freiwilliger Helfer arbeitet, klagt, dass man mit der Registrierung der Flüchtlinge heute kaum vorankäme. So viel Papierkram! Elke läuft schnell rüber ins Festivalbüro. Irgendwer aus der Kunstcommunity wird sicher Zeit haben, Mohammed zu unterstützen. Mohammed gefällt, was die Theoretiker und Architekten hier machen. Er selbst hat, erzählt er, vor Jahrzehnten in Kairo Design studiert. Er baut und bastelt gern. „Eure Werkstatt, das ist ja ein Paradies“, lacht er.
Als die Urbanize-Leute erfuhren, dass ihr Festival dieses Jahr quasi Teil eines Flüchtlingscamps ist, haben sie sich viel ausgedacht, und nicht alles hat funktioniert. So haben sie sich vorgenommen, neben den Filmen, die zum offiziellen Festivalprogramm gehören, einfach auch arabischsprachige Spielfilme zu zeigen. Aber darauf hatte praktisch niemand Lust. Die meisten Flüchtlinge sind wochenlang unterwegs und hier nur eine Nacht – sie sind froh, einmal in einem Bett liegen zu können. Kino ist nicht ihr erstes Bedürfnis.
„Die Flüchtlinge wollen natürlich auch die Aula des Hauses so wenig wie möglich verlassen. Diese Zone ist der Informationsumschlagplatz. Wenn der nächste Sonderzug nach München fährt, muss alles ganz schnell gehen. Keiner will das versäumen.“
Miteinander und Nebeneinander zugleich
Dafür haben ein paar andere Dinge sehr viel besser funktioniert. Über 300 simple Hocker und Stühle haben Architekturstudenten zusammengeschraubt, dazu noch andere, sehr funktionale und hübsche Möbel. Die wandern so langsam durch das Haus. So dominieren nicht kahle Wände und simple Feldbetten, es entstehen ein paar hübsche Ecken.
Ein Kunstkollektiv hat in zwei Räumen „Pop-up-Spielplätze“ eingerichtet – das war eigentlich schon Teil des ursprünglichen Ausstellungskonzeptes, um zu zeigen, wie temporäre Spielplätze aussehen könnten. Jetzt tollen hier Flüchtlingskinder herum, die Installation bekommt unverhofft Sinn.
Im Hof, auch das ist Teil des ursprünglichen Festival-Konzeptes, sollten neue urbane Spiele vorgestellt werden. Eine Art Minigolf etwa, zusammengestellt aus Trümmern, die man in jedem Baumüllcontainer findet. Flüchtlingsjungs vertreiben sich hier jetzt die Zeit gemeinsam mit Ausstellungsbesuchern. Dann baut ein Gruppe junger Leute den Hof zu einer „Fahrrad-Polo-Arena“ um. Buben aus Syrien jubeln bei jedem Tor.
Am Vortag war im Festivalcafé Party, und es legte eine Wiener DJane mit libanesischen Wurzeln auf. Die Musik – eine Art Crossover von westlichem Pop bis arabischer Musik. Nach und nach seien junge Flüchtlingen rüber zur Künstlerparty gekommen. „Das war die beste Nacht, seitdem ich aus Syrien weggegangen bin“, sagte einer der jungen Männer.
Es ist ein eigentümliches Miteinander und Nebeneinander zugleich. Der „Urbanize“-Trakt und der „Flüchtlingstrakt“ sind durch Doppelschwingtüren getrennt, und es ist natürlich keineswegs so, dass die einen zu den anderen „wie selbstverständlich“ rübergehen. Es gibt Schwellenangst oder auch so etwas wie Respekt vor dem Terrain der anderen. „Bewaffne deine Wünsche“ steht an der Wand in einem Raum, den ein Hamburger Stadtaktivisten-Kollektiv gestaltet hat.
„Großartig ist das“
Kooperative und solidarische Stadtnutzung, das ist das große Thema des Festivals – Dérive hat ein eigenes Sonderheft zu „kooperativem Urbanismus“ herausgebracht. So ist die Praxis, Künstler und Flüchtlinge unter ein Dach zu bringen, in gewissem Sinn auch ein performativer Versuch, das Thema des Festivals in der Praxis zu erproben – auch wenn das so niemand geplant hat. „You Never Walk Alone“ steht an einer anderen Wand.
„Großartig ist das“, sagt Alexander Tröbinger, der Sprecher des Wiener Roten Kreuzes. Dabei ist die Situation natürlich eine überfordernde. Das alte Amtshaus ist nicht dafür geeignet, so große Menschengruppen zu beherbergen. Solange das Haus allein als Notunterkunft für Leute diente, die nur ein, zwei Nächte hier verbrachten, ging das noch irgendwie. „Aber jetzt wurde beschlossen, dass zwei Etagen weiter als Notunterkunft, zwei Etagen aber als langfristige Unterkunft benutzt werden für Leute, die bereits im Asylverfahren sind.“ Wie will er hier denn schnell Duschen einbauen? Alexander Tröbinger guckt, selbst fragend: „Keine Ahnung. Irgendwie werden wir es schon schaffen.“
Grenzüberschreitung in vielerlei Hinsicht. Dazu zählt, dass das Festival jetzt offiziell zu Ende ist, aber auf eigentümliche Weise weitergeht. Die Studierenden der Technischen Universität bauen jetzt Möbel für Aufenthaltsräume, das Festivalcafé wird zum Teehaus. Die freien Radiomacher, die bisher „Radio Dérive“ gesendet haben, wollen jetzt mit jenen Flüchtlingen, die länger im Haus bleiben, Sendungen gestalten. „Ein Flüchtling, der in Syrien als Friseur gearbeitet hat, hat sich auch schon gemeldet“, sagt Elke Rauth. Für ihn richten die „kooperativen Stadtplaner“ jetzt ein Friseurzimmer ein.
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