Rudolf Balmer über ein Gerichtsurteil zum Flüchtlingslager Calais: Frankreichs schlechtes Gewissen
Seit Jahren haben die französischen Behörden alles getan, um die Zuwanderung von Flüchtlingen nach Calais zu stoppen. Nur ja kein zweites "Sangatte" entstehen lassen, so lautete die politische Devise und die offizielle Anordnung von oben – der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy hatte Ende 2002 das einst vom Roten Kreuz eingerichtete Zwischenlager bei Calais schließen lassen. Verbessert wurde dadurch nichts.
Die Linksregierungen haben diese Abschreckungspolitik der rechten Staatsführungen skrupellos fortgesetzt, sei es aus eigener Ohnmacht oder aber aus Angst vor den fremdenfeindlichen Reaktionen in der Bevölkerung. Irgendwie, so hoffte man in Paris, wird sich das Problem mit der Zeit schon von selber lösen.
Diese Vogel-Strauß-Politik war zum Scheitern verurteilt. Calais wurde zum Schandfleck einer menschenunwürdigen Behandlung von Flüchtlingen: Mehr als 6.000 Menschen leben in diesem geduldeten Camp unter äußerst prekären Lebensbedingungen.
Fast ebenso peinlich ist es nun, dass die Justiz zuletzt der politischen Staatsmacht etwas mehr Menschlichkeit vorschreiben muss. Dieses Minimum an Menschenwürde sollte für das Land, das sich als Wiege der universellen Menschenrechtserklärung feiert, selbstverständlich sein. Es brauchte aber ein Urteil, um diese Grundprinzipien in Erinnerung zu rufen – obwohl Hilfsorganisationen seit Jahren einen humaneren Umgang fordern.
Ein paar Toiletten oder Wasserstellen werden den "Dschungel" von Calais gewiss nicht in eine Attraktion für Vertriebene aus Syrien oder dem Sudan verwandeln. Den französischen Behörden aber erlaubt dies wenigstens, das schlechte Gewissen ein bisschen zu beruhigen. Doch ihr Dilemma und die Scham darüber bleiben. Zwischen Solidarität und ängstlicher Abwehrhaltung hat Frankreich keine Wahl getroffen. Das kann dem Staat und der Bevölkerung auch kein Richter abnehmen.
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