Daniel Defert über Michel Foucault: „Er kämpfte immer mit der Polizei“
Der Lebensgefährte des Philosophen Michel Foucault hat seine Autobiographie vorgelegt. Er erzählt über Adorno, den Kampf gegen Aids und die 68er.
285, rue de Vaugirard in Paris, Rive Gauche. Daniel Deferts Wohnung in Paris. Die Wohnung, die er sich mit Michel Foucault geteilt hat. Über 20 Jahre waren Defert und Foucault zusammen.
Zweiter Hof. Rechts. Achter Stock. Defert, geboren 1937, ist Soziologe und Philosoph. Nachdem Foucault an den Folgen seiner HIV-Infektion 1984 starb, gründete Defert die Vereinigung AIDES, die heute noch größte Aids-Organisation in Frankreich – vergleichbar mit der AidsHilfe Deutschland.
Wendeltreppe. Braune Tür. Defert macht auf. Hinter dem schmalen Flur liegt ein großes Zimmer mit großformatiger Fensterfront. Noch immer stehen hier die Bücherregale so, wie man sie von den berühmten Foucault-Fotos kennt. In der Ecke neben drei Sesseln auf einem kleinen Tisch stapeln sich Bücher von und über Foucault in allen Sprachen.
taz: Herr Defert, warum sprechen Sie Deutsch, wegen Marx oder Goethe?
Daniel Defert: Ich habe es in der Schule gelernt. Aber ich fahre tatsächlich schon sehr lange einmal im Jahr nach Deutschland.
Sie haben in Deutschland Vorlesungen zu Bertolt Brecht besucht.
Das war im September 1960, ich reiste durch Deutschland. In Heidelberg besuchte ich jeden Tag Vorlesungen zu Bert Brecht. In Frankfurt traf ich einen jungen Mann, der mit Frau Adorno eng befreundet war. Er schrieb eine Arbeit über André Gide. Wir hatten eine Affäre. Er schlug mir vor, eine Vorlesung von Adorno zu besuchen.
Kannten Sie Adorno?
Ich kannte Adorno nicht. Ich habe abgelehnt, weil ich müde war. Dann kam ich zurück nach Frankreich und wurde Foucault vorgestellt. Im Nachhinein bereue ich es, weil ich Adorno und Foucault in der gleichen Woche hätte treffen können!
Foucault soll mal gesagt haben, hätte er Adorno früher gelesen, hätte er einiges zu schreiben sich sparen können.
Ich denke, er hat es aus Höflichkeit gesagt.
In der Frankfurter Soziologie hat man Foucault lange abgelehnt.
Der Umgang mit Historizität war sehr entgegengesetzt. Wenn die Frankfurter Schule oder selbst Hannah Arendt über Geschichte sprach, dann immer aus zweiter Hand. Foucault aber war es wichtig, in die Archive zu den Primärquellen zu gehen.
Andersherum erfährt die Frankfurter Schule in Frankreich bis heute keine große Rezeption.
Sie kam erst durch Jean Baudrillard in Frankreich an, aber das war schon die zweite Welle. Davor gab es noch Henri Lefebvre.
Foucault hat sehr viele deutsche Philosophen rezipiert.
Ich würde sogar sagen, er war germanophil. Er las in Deutsch, sprach Deutsch. Als er seinen Test an der École normale supérieure hatte, sprach er ein deutsches Wort falsch aus. Der Professor lachte ihn aus und Foucault war beschämt. Als sein Vater ihn fragte, was er als Geschenk haben wolle für den Erfolg, sagte er „Deutschunterricht“.
Daniel Defert: „Ein politisches Leben“. Merve Verlag, Berlin 2015, 240 S., 22 Euro
Nach seinem Tod 1984 haben Sie die erste und bis heute größte Aidshilfe Frankreichs, AIDES, gegründet und Ihr Leben dem Kampf gegen Aids verschrieben. Diese Geschichte dokumentieren Sie nun in Ihrem Buch.
Ja, meine Organisation AIDES wollte ein Archiv der Geschichte der Organisation anlegen. Ich mag das Schreiben nicht, und deshalb haben wir das Buch in Form eines Interviews gemacht. Es gab dann eine erste Version des Buchs, die mir nicht gefallen hat.
Warum nicht?
Die Interviewer haben die Geschichte als persönliche Geschichte reorganisiert, was mir nicht gefiel. In dem Moment, in dem man versucht, eine Chronologie zu erstellen, und alles in eine lineare Erzählung bringt, verändert man die Bedeutung einiger Ereignisse.
Was genau haben Sie als zu persönlich empfunden?
Es betraf mein Leben und die Beziehung zu Foucault. Natürlich hat die Gründung von AIDES mit dem Tod Foucaults zu tun, aber ich wollte nicht über das Private sprechen. Also haben wir den ersten Entwurf verworfen und das Buch neu organisiert.
Haben Sie es auch abgelehnt, mit einem der Biografen Michel Foucaults zu sprechen, mit Didier Eribon zum Beispiel, der sicher die bekannteste Foucault-Biografie vorgelegt hat?
Ja, ich habe es abgelehnt. Eribon kannte Foucault sehr gut. Nach Foucaults Tod habe ich ihn zwei Jahre nicht gesehen, und dann rief er mich eines Tages an und sagte mir, er wolle die Biografie schreiben. Ich wollte ihn nicht treffen.
Haben Sie es bereut?
Ich dachte, Eribons Biografie wird schon okay werden, und es war ohnehin besser, sie ohne mich zu machen, weil er so nach Antworten suchen und nach Fakten forschen musste. Für meinen Geschmack war sie dann zu sehr die Geschichte Foucaults als Akademiker, also war ich etwas enttäuscht, weil sie nicht Foucault zeigte, wie er war.
Inwiefern?
Er blendete all die fantastischen und leidenschaftlichen Aspekte seines Lebens aus. Also war ich enttäuscht und akzeptierte, dem Biografen James Miller einige Fragen zu beantworten. Aber dann war ich entsetzt.
Warum?
Millers Buch ist unseriös. Geradezu absurd. David Macey hat mit „The Lives of Michel Foucault“ eine gute Biografie geschrieben. Er hat viel geforscht und Foucaults Texte gelesen, Eribon hat nicht in die Texte geschaut, ihn interessierte nur sein akademisches Leben, während Macey Foucaults Texte untersucht hat. Die meisten Leute, die über Foucault arbeiten, benutzen Maceys Buch.
Sie sagen, Sie bereuen, mit James Miller gesprochen zu haben.
Miller wollte unbedingt eine sadomasochistische Geschichte aus seinem Leben machen. Macey interessierte sich für das Intellektuelle.
Aber Foucault galt nicht nur für Eribon als Parade-Akademiker. Er hatte es als Professor bis an die Spitze des streng hierarchischen Bildungssystem Frankreichs bis ins Collège de France geschafft.
Als ich 1960 Foucualt traf, kam er gerade aus Deutschland zurück und war ein „Herr Professor“. Einer, dem man den Mantel hielt, so wie man das in Deutschland mit Professoren machte vor 1968. Er war 30 und ich war 21. Ich war beeindruckt von seinem „Herr-Professor-Look“.
Und das hat sich mit dem Jahr 68 geändert?
Foucault hatte sich schon vorher geändert. Er hat Frankreich 1966 in Richtung Tunesien verlassen, und er war dort sehr eng mit seinen Studenten. Im März 66 war er in die erste Studentenbewegung involviert.
Und 68?
Im Mai 68 war er in Tunesien. Dort, nicht in Frankreich, veränderte sich seine Beziehung zu den Studenten, und er war in die antihierarchischen Kämpfe involviert. Sogar am Collège de France, das dazu tendiert, den Status des „Herrn Professor“ ständig neu zu erschaffen, versuchte er, ein anderes Verhältnis zu seinen Studenten aufrechtzuerhalten. Er hatte dort über 600 Hörer in seinen Vorlesungen, sie waren ein Spektakel. Er mochte lieber die US-amerikanische Art zu unterrichten, die kleinen Seminare, wo die Studenten sehr frei sprachen. Die Nähe zu den Studenten gefiel ihm viel besser. Das alles war sehr weit entfernt von dem Parade-Akademiker, den Sie in Ihrer Frage ansprechen.
Und das blendet Eribon aus?
Eribon ist gut informiert, aber er war prüde gegenüber dem Privatleben. Eribon projizierte den Wunsch nach einem akademischen Leben auf Foucault. Miller hingegen kam mit dem Wissen über einige Ereignisse aus den USA, was sehr interessant für mich war. Das hatte was Originelles, Abgründiges, und das fehlte bei Eribon. Aber das Buch war dann absolut verrückt, er projizierte seine eigene sexuelle Fantasie hinein.
Die Position der beiden Autoren ist interessant, der eine projiziert eine akademische, der andere eine sexuelle Fantasie in das Leben Foucaults.
Ja. Wissen Sie, Foucaults Mutter war sehr elegant und bourgeois. Sie sagte, du kannst nicht über ihn sprechen, du bist sein Freund. Ich glaube, sie hatte recht, und ich machte das zu meinem Gesetz. Deshalb wollte ich auch in meiner eigenen Biogrfie nicht über ihn sprechen, auch wenn die Leser das erwarteten.
Ja, die Leser erwarten das, weil er ein Superstar ist. Er hätte dem Interesse für sein Leben sicher Ablehnung entgegengebracht. Apropos, wir haben letztes Jahr seinen Geburtsort und sein Grab in Vendeuvre besucht …
… Foucaults Mutter hat auf sein Grab „Professeur au Collège de France“ schreiben lassen, haben Sie das gesehen?
Ja.
Ich war schockiert. Ich sprach mit ihr darüber, und sie sagte: „Ach ja, Wörter sind bloß Wörter, Menschen vergessen sie, nicht die Titel.“ Also ist es das Grab des Akademikers.
Sie war sehr stolz?
Ja.
Sie haben versucht, die politische Geschichte zu erzählen, nicht so sehr die private. Und jetzt sprechen wir hier auch über Foucault.
Vieles, was ich selbst gedacht und geschrieben habe, war inspiriert von Foucault. Nicht im dem Sinne, was er sagte, sondern im Sinne eines bestimmten Habitus im Denken. Einer der AIDES-Mitglieder sagte, Defert zwingt uns immer diese foucaultsche Theorie auf. Ich hatte nie das Gefühl, das zu tun.
War sein Tod der Grund für Ihre Arbeit bei AIDES?
In gewisser Weise habe ich AIDES im Namen von Foucault gemacht. Seine Mutter hat mich unterstützt und sagte zu mir, ich musste es wohl für ihn tun.
Sie sagten ein paar Mal, es sei Ihnen unangenehm, über Ihr Leben zu sprechen. Warum ist es so schwer von sich selbst zu sprechen? Ist es wie beim Schreiben? In Ihrem Buch schreiben Sie, es sei überflüssig zu schreiben, wenn man nicht eine neue Form findet für das, was man zu sagen hat.
Das betrifft mein tiefes Gefühl, kein Autor zu sein. Foucault im Gegensatz schrieb jeden Tag, 25 Jahre lang habe ich ihn vier, fünf Stunden am Tag schreiben sehen, wenn er mal zwei Tage nicht schrieb, war er nah an der Neurose. Foucault hatte großen Spaß am Schreiben. Ich habe keinen Spaß am Schreiben, und wenn du nicht schreibst, kannst du dein Schreiben auch nicht verändern, keine neue Form finden. So ist es.
Also haben Sie sich auf Ihre politische Arbeit konzentriert?
Ich hatte immer Spaß daran, konkrete Dinge zu tun, und wenn sie fertig waren, waren sie fertig. Vielleicht ist das ein Hysteriemerkmal. Die Arbeit in der G.I.P. [Gruppe Gefängnis-Information] war großartig. Foucault war auch glücklich darüber.
Wie eng arbeiteten Sie zusammen?
Als ich Foucault traf, hatte er nicht die Absicht, in Frankreich zu bleiben. Er war in Schweden, Polen, Deutschland – er wollte nach Japan gehen. Ich wollte die Agrégation in Philosophie beenden, um etwas in der Tasche zu haben. Ich habe abgelehnt, nach Japan zu gehen, und Foucault blieb so auch in Frankreich. Ich habe ihm nie erzählt, dass ich meine Entscheidung revidiert hatte und mit ihm gehen wollte, weil er schon abgesagt hatte. Wir blieben in Paris, er schrieb „Die Ordnung der Dinge“, und ich bereitete meine Agrégation vor. „Die Ordnung der Dinge“ war sein erster Erfolg. Wir waren ein junges, sehr verliebtes Paar, und ich glaube, es hat sich im Schreibprozess und also im Buch und seinem großen Erfolg niedergeschlagen. Ich ging dann nach Tunesien, Foucault kam auch, dann kam 68, ich stieß erst später zur Bewegung, zu den Maoisten, als diese schon verboten waren, und engagierte mich in den Prozessen der politischen Gefangenen. Foucaults „Überwachen und Strafen“ – sein erster internationaler Erfolg – war auch mit unserem gemeinsamen Leben und natürlich der G.I.P. verlinkt. Die politischen Interventionen waren wichtig für Foucaults Denken, seine Theorie.
Sie kommen immer wieder auf die enge Verbindung zwischen Foucaults Werk und den politischen Bewegungen, seinen politischen Interventionen, zurück.
Foucault hat Dinge in den Stand eines politischen Objekts erhoben, die zuvor nicht politisch waren. Als er Ende der 50er, Anfang der 60er über Wahnsinn schrieb, war das noch kein politisches Thema. Und die Gefängnisse – sie waren gar 68 noch kein politisches Thema. Das war erst nach 1971/1972 so, als es in Frankreich zu großen Aufständen in den Gefängnissen gekommen war, es gab damals etwa 35 Aufstände, einige Gefängnisse wurden komplett zerstört. Wenn ich von meinem politischen Leben spreche, klingt das für die meisten meiner Generation wie ein Witz, für die meisten war ich nicht in der Politik, weil ich nicht Mitglied der Kommunistischen Partei war. Aber mein Leben war ein politisches: mit der Gefangenenbewegung und mit der AIDS-Bewegung. Beide Male musste erst eine Politisierung des Gegenstands stattfinden. Also bedeutet politisches Leben auch eine Transformation von Politik. In genau diesem zweiten Aspekt, in dieser Hinsicht war Foucault politisch involviert. Er war nur ganz kurz in der Kommunistischen Partei, er verließ sie sofort wieder, er war mehr amüsiert von Politik als involviert. Aber sein Tun war politisch.
Reden wir über die Formen der Politik. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass nach 68 die Gesellschaftsanalyse weniger Teil der Soziologie als vielmehr eine Massenbewegung war.
Ja, das war meine Erfahrung. Ich war in Großbritannien, um eine Umfrage für ein soziologisches Institut zu machen. Dort wurde mir klar, dass die Analyse auf der Straße lag, die sozialen Bewegungen selbst waren die Analyse.
Sehen Sie etwas Ähnliches heute?
Ich denke ja, aber ich bin nicht Teil davon, weil ich das Internet nicht benutze. Es gibt neue Formen der Vernetzung, neue Verbindungen zwischen den Menschen, von denen ich nichts mehr verstehe. Sie finden nicht mehr auf der Straße statt. Ich verstehe im Moment nichts davon, aber vielleicht irgendwann. Es geht weniger um das Denken als um das Ereignis. Ich habe immer versucht, sensibel für das Ereignis zu sein, für die Begegnungen und die Situation. Das ist wiederum ein Grund, weshalb es keine lineare Erzählung meines Lebens geben kann. Da gibt es keine Logik, der Zufall, das Wagnis, die Begegnung ist die Logik.
Wer waren Ihre Verbündeten?
Als ich Maoist war, war die proletarische Bewegung unser Modell, wir wollten mit migrantischen Arbeitern und mit Frauen arbeiten. Aber 1972 zeigte sich, dass die Frauen in den Gefängnissen Themen hatten, die nicht die proletarischen waren. Und das war symptomatisch für das, was dann passierte, nämlich eine Fragmentierung der Kämpfe, die Gewerkschaften und Parteien hatten völlig andere Themen, und wir waren den Transvestiten, Gays, Feministinnen näher als den Proletariern.
In Deutschland gibt es eine Lesart Foucaults als unpolitischer oder gar neokonservativer Denker.
Weil er eine staatszentrierte Analyse abgelehnt hat und stattdessen die vielfältigen Machtpraktiken in den Blick nimmt und Macht als Kräfteverhältnis analysiert. Es ging ihm vielmehr um die Praktiken und Beziehungen unterhalb der Macht des Staates oder anders gesagt: um das Verhältnis zwischen Arzt und Patient und Lehrer und Schüler ebenso wie zwischen Regierenden und Regierten. Für die Marxisten existierte Macht damals nur als unterdrückende. Foucault war nicht so staatsfixiert, er fragte eher nach den Formen des Regiertwerdens. Ihn interessierten die Techniken der Kontrolle, nicht die faktische Institution.
War er deshalb skeptisch gegenüber militanten Linksradikalen, die mit ihren Aktionen auf den Staat zielten?
Foucault war gegen Terrorismus in demokratischen Ländern. Das war auch der Grund, wieso er sich weigerte, die Roten Brigaden in Italien zu unterstützen. Er gab ein Interview in Italien für L‘Unità. Es kam dadurch zu Spannungen mit Felix Guattari und Gilles Deleuze. Ich stand eher Adriano Sofri und Lotta Continua näher. Zwischen Deleuze und Foucault kam es gar zum Bruch, als Guattari Trotzkis Schrift über den Faschismus in Deutschland veröffentlichte. Foucault war der Ansicht, dass man nicht sagen könne, der deutsche Staat sei ein faschistisches Land zu der Zeit. Foucault interessierte sich sehr für die RAF, aber sie war ihm eher suspekt. Er war sicher, dass die RAF von den Sowjets unterstützt wurde.
In Berlin gerieten Sie wegen der RAF ins Visier der Polizei.
Wir sprachen in einem Restaurant mit den Merve-Verlegern Peter Gente und Heidi Paris über die RAF. Die Menschen um uns herum hörten uns diskutieren. Heidi Paris sah zu der Zeit ein wenig wie Inge Viett aus, deren Fahndungsfoto überall hing. Als wir das Restaurant verließen, wurden wir von der Polizei, die mit Waffen angerannt kam, festgenommen. Foucault war es gewohnt, mit der Polizei zu diskutieren – und auch zu kämpfen. Aber Peter Gente schrie: „Nicht in Berlin. In Paris, ja. Hier schießen sie.“ Und Foucault hörte sofort auf. Wir wurden dann nach Moabit gebracht. Foucault sagte, wir hätten nur eine kurze Zeit dort verbracht, aber ich meine, es waren drei Stunden.
Er kämpfte oft mit der Polizei?
Er wurde oft festgenommen und kämpfte ständig mit der Polizei. Er galt als Linksradikaler.
Wegen der G.I.P.-Aktionen, an denen auch Sartre beteiligt war?
Sartre und Foucault waren zu der Zeit sehr eng. Es war aber keine intellektuelle Beziehung, weil sie selten diskutierten. Als Foucault Sartre traf, war Sartre schon sehr alt und fast blind. Sartre schrieb auch ganz anders als wir damals bei G.I.P.
Was genau meinen Sie?
Zum Beispiel schrieb er, dass die Inhaftierten für uns alle kämpfen würden. Foucault hätte niemals so etwas geschrieben. Aber trotzdem waren sie sehr freundschaftlich miteinander. Foucault fuhr Sartre überallhin – zu den Renault-Werken und den Streiks und so weiter. Es war eine sehr praktische Freundschaft. Sie sprachen nicht über ihre Differenzen.
Wie war die Freundschaft zu Roland Barthes?
Sie haben sich in den 50ern kennengelernt. Vielleicht bin ich ein wenig schuld daran, dass sie am Ende nicht mehr so eng waren. Roland Barthes mochte es, ab 18 Uhr in die Bars zu gehen, aber 1963 arbeitete ich an meiner Agrégation in Philosophie, und Foucault schrieb „Die Ordnung der Dinge“, daher hörten wir auf auszugehen. Barthes war sehr traurig darüber, weil Foucault seinem Nachtleben einen gewissen intellektuellen Glanz verlieh. Ohne Foucault ging es nur noch um die Gigolos. Foucault und Barthes hatten irgendwie eine seltsame Beziehung. Barthes kopierte immer ein wenig Foucault.
Hat Foucault jemals den anderen großen Linksradikalen Frankreichs, Guy Debord, getroffen?
Nein. „Überwachen und Strafen“ ist auch genau entgegengesetzt zu „Die Gesellschaft des Spektakels“. Foucault hat Debord zum Teil gelesen, aber nicht intensiv. In „Überwachen und Strafen“ gibt es diesen Anwalt aus dem 19. Jahrhundert, er beschreibt die Gefängnisse als genau entgegengesetzt zu dem Zirkus in Rom. Foucault nahm dies als Ausgang, um zu zeigen, dass die moderne Gesellschaft eben nicht auf der Gesellschaft des Spektakels, sondern auf Kontrolle und Überwachen beruht. Es ist also direkt gegen Debord gerichtet. Aber bei den Situationisten gab es auch Isidore Isou, der zu Foucaults Vorlesungen kam und ihm auch seine Werke schickte.
Jetzt bekommen Sie viele Abhandlungen über Foucault geschickt.
Den Stapel dort werde ich bald dem IMEC [Institut Mémoires de l‘édition contemporaine] in der Normandie spenden.
Es gibt auch ein Foucault-Archiv in Paris.
Ja, es wurde kürzlich von der Bibliothèque nationale de France gekauft. Ich habe lange Zeit alle Manuskripte behalten, weil Foucault keine postumen Veröffentlichungen wollte. Nach Jahren haben wir, ich und die Familie, aber entschieden, Werke zu veröffentlichen. Letztes Jahr habe ich die 37.000 Seiten handgeschriebener Manuskripte an die Biobliothèque nationale verkauft.
Befindet sich darunter auch Foucaults „Aveux de la chair“, der vierte Band von „Sexualität und Wahrheit“?
Nein. Die Familie hat aber entschieden, alles zu veröffentlichen.
Wirklich? Auch den vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“?
Die Familie wird ihn bald veröffentlichen.
Ist das seltsam für Sie?
Nein, ich habe keine Rechte daran. Nicht an seinen Schriften. Ich war der Miteigentümer der Wohnung und habe nur die Rechte an allen Dingen, die sich in der Wohnung befanden. Und die Manuskripte befanden sich in unserer Wohnung.
Aber Foucault war sehr explizit in seinem Wunsch, dass es keine postumen Veröffentlichungen geben sollte. Und bereits die Vorlesungen am Collège de France wurden nach dem Tod veröffentlicht.
Die Vorlesungen wurden mit meiner Hilfe veröffentlicht. Wir waren mit einer bestimmten Situation konfrontiert: Sie erschienen zuerst in Italien, und die Familie Foucaults versuchte das zu verhindern. Aber das französische Gesetz hat keine Wirkmacht in Italien. Viel schwieriger war, dass Foucault immer Nein zur postumen Veröffentlichung gesagt hat, weil er Angst hatte, wie Kafka zu enden, aber gleichzeitig seinen Studenten erlaubte, die Vorlesungen aufzuzeichnen. Seit Foucaults Tod haben wir „Dits et Ecrits“ sowie 13 Bänder seiner Vorlesungen veröffentlicht – es gibt noch sechs oder sieben.
Sie sagen Foucault und niemals Michel.
Früher sagte ich immer Michel, wenn ich über ihn sprach, aber dann war er eine öffentliche Person und immer, wenn ich Michel sagte, sagten die ganzen Leute um mich herum auch Michel. Das hat mich immer irgendwie verärgert, weil er ja mein Michel war. Die ganze Erfahrung mit AIDES war eine Möglichkeit, mit ihm zu sein. Ich dachte für ihn, mit ihm. Es war die Möglichkeit, ihm nah zu sein. Ich war in meinem Leben insgesamt länger ohne ihn als mit ihm. Aber durch diese ganzen Aktivität war und bin ich jeden Tag mit ihm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei