: Wer schmuggelt, nimmt den Zug
AUS LVIV TINA VEIHELMANN
13.56 Uhr im Bahnhof von Lviv. Es pfeift. Der Zug rollt an. Luda achtet nicht auf den Schaffner, der beginnt, die Fahrkarten der Reisenden zu kontrollieren. Ihr Geschäft interessiert ihn nicht. Er müsste die Augen schon sehr fest zumachen, wollte er Ludas Arbeit nicht sehen. Dass er dennoch nichts sieht, kostet.
Luda muss sich beeilen, ihr Job ist Akkordarbeit. Bis der Zug die polnisch-ukrainische Grenze erreicht, muss alles fertig sein. In großen Paketen steht die Ware auf dem Boden. Alle Pakete werden aufgerissen, die Zigarettenschachteln werden aus den Stangen gelöst, von jedem Päckchen wird die Alufolie abgerissen, die der neue Detektor des polnischen Zolls erkennt – dann wird alles frisch verklebt. Auf den Tischchen am Fenster, auf den Ablagen, auf den Sitzen, überall liegen Zigarettenpäckchen. Durch Ludas Hände fliegen die Schachteln. Luda packt.
Neben ihr steht ihre Mutter Olga. Die packt auch. Daneben steht ihr Bruder Andrej. Er packt. Ratsch. Luda reißt ein langes Stück Klebeband von einer Rolle. Sie trennt es mit einem Teppichmesser ab. Olga tut dasselbe. Ratsch. Es knallt, wenn die Klebebänder von der Rolle abgefetzt werden. Der Waggon hallt von dem Knallen wider.
Jeden Tag um die Mittagszeit fährt der Schmugglerzug von Czernowic über Lviv nach Przemysl. Es ist ein Zug mit Liegewagen, was den Vorteil bietet, dass man genug Platz zum Arbeiten hat und genug Stauraum zum Unterbringen der Ware. Der Schmugglerzug fährt täglich, und täglich fährt er dieselbe Belegschaft. Er ist eine rollende Packfabrik. Ein modernes Unternehmen mit flachen Hierarchien: Jeder ist Unternehmer und Angestellter zugleich. Jede Minute – auch auf Reisen – wird genutzt. Umgepackt wird während des Transports. Die Klebebänder werden zurechtgelegt und die Zigarettenpäckchen, Schachtel an Schachtel, darauf geklebt, einen Daumen breit Abstand zwischen jedem. So entstehen lange Gürtel, die es erlauben, dass der Händler sich die Ware um den Körper wickelt.
Olga trägt gleich drei Lagen. Andrej eine. Wie Selbstmordattentäter sehen sie aus, die Dynamitstangen um den Leib gebunden. Luda reicht ihnen Unterwäsche, T-Shirts, Blusen, Pullover und Leggings zum Überziehen. Olga ist vollschlank, aber nun ist sie fast doppelt so füllig wie sonst. „Modern Girl“ glitzert auf dem Shirt, das sie zuoberst trägt. Wenn sie sich bewegt, knistert sie. Deshalb sitzt sie ganz still.
„Früher habe ich bei der Bank gearbeitet“, sagt Olga, die etwas Würdiges ausstrahlt, wie sie da unbewegt auf ihrer Liege thront, „vierzig Jahre.“ Sie fischt ein dickes Kellnerportemonnaie aus ihrem Gepäck und beginnt Hrivna-Scheine abzuzählen. Immer ein Päckchen zu fünf Scheinen legt sie auf das Kunststofftischchen, das am Waggonfenster angeschraubt ist. Gewissenhaft zählt sie. So hat sie es gelernt. Ein Päckchen für Luda, ein Päckchen für Andrej, ein Päckchen für sich selbst. Es ist das Geld, das die drei zwischen die Seiten ihrer Pässe legen – für den Zoll.
Als Olga in Rente ging, reichte ihr Geld nicht für Miete, Gas und Strom. Deshalb fing sie an zu handeln, erzählt sie. Es war ganz einfach. Es war Anfang der Neunzigerjahre, die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine hatte sich für unabhängig erklärt, die Grenze nach Polen war offen. Man fuhr mit ein paar Taschen voller Strümpfe, Büstenhalter oder Zigaretten auf den Basar nach Przemysl und verkaufte. Die ganze Familie fuhr. Halb Lviv fuhr.
Luda war damals Anfang zwanzig und stürzte sich ins Geschäft. Sie wollte nicht Bankangestellte werden oder Arbeitslose, sie wollte ihre eigene Boutique. Manche schafften das. Die Familie Markiv hatte es geschafft. Man konnte es also schaffen. Luda war sparsam und fleißig. Das Glück kommt immer morgen.
Ludas Bewegungen sind schnell. Kaum regt sich etwas hinter ihr, hat sie sich schon umgedreht. Sie hat alles im Blick. Hatte sie immer schon. Sie ist die heimliche Chefin des Familienunternehmens – denn bevor Andrej überlegt, was man wo kaufen muss und zu welchem Preis, hat sie’s schon ausgerechnet. Luda weiß auch, wenn’s brenzlig wird. Weil sie so zierlich ist, braucht sie kaum Waren am Leib zu tragen. Das würde ja auffallen – so eine dicke Person mit so schmalen Luda-Händen. Sie wirbelt herum. Andrej hat seine Klebebandrolle auf dem Sitz liegen lassen, unter der Bank knistert noch Plastikfolie, da hinten knüllt Packpapier. Luda schafft Ordnung.
Vor zwei Jahren hat Luda ausgerechnet, dass man das Geschäft jetzt an den Nagel hängen müsste. Polen wurde Mitglied der Europäischen Union, wurde Schengen-Land. Man hörte von Wachtürmen an der Grenze, Personal, Hunden, Detektoren für den Zoll. Fahndungsziele, Fangquoten. Das Schlimmste: Es würde eine Visapflicht für Ukrainer geben, die nach Polen wollten. Man wusste, was das hieß.
„Lohnt sich nicht mehr“, sagte Luda. „Aber was dann?“, fragte Olga. Im Fernsehen versprach Polens Präsident Aleksander Kwaśniewski den Ukrainern, die Grenze würde keine Mauer um die Festung Europa werden. Alle anderen sagten das Gegenteil. Also: kein Geschäft mehr. Aus.
Es ist anders gekommen. Die Händler fahren noch. Auch Luda fährt noch. Sie fährt jetzt sogar jeden Tag. Sie hat sich damals hingesetzt und noch mal gerechnet. Dann sagte sie: Es geht. Es muss ja gehen. Wovon sonst sollen sie und Olga und Andrej leben? Dann war da auch noch dieses Bild: Luda mit gepflegten Fingernägeln an einer richtigen Kasse, sie zieht lächelnd die Geldkarte einer Kundin durch den Schlitz. Die Zukunft.
Sie rechnete mit Olga das Unternehmen durch: 3,20 Euro Gewinn machen sie pro Stange; noch nicht eingerechnet Tickets, Schmiergelder, Risiko, Wartezeiten auf dem Konsulat. Einnahmenseite konstant, Ausgabenseite unabsehbar. Und die Fingernägel rissig vom Packen, der Nagellack abgeplatzt.
Irgendwann wurde Luda klar, dass sie ein Drittel ihres Lebens in einem Zug zugebracht hatte. Dann änderte sich etwas. Sie merkte, dass sie eine Schmugglerin geworden war. „Man merkt es daran, dass man nicht mehr sagt: ‚Bald eröffne ich eine eigene Boutique‘ “, sagt sie. Oder man sagt es und weiß, dass es nur eine Geschichte ist, die jede Schmugglerin erzählt. Man merkt es auch an der Angst. Der Moment kurz vorm Zoll bewirkt keinen Adrenalinstoß mehr, der kurz danach keine Erleichterung.
Luda ist reizbar geworden. Die Jahre im Zug haben sie nicht routiniert und gelassen gemacht, sondern routiniert und nervös. Sie weiß, das Risiko, erwischt zu werden, ist klein. Die Stichprobe des Zolls trifft nur jeden hundertsten Händler. Aber: Seit Luda weiß, dass sie nie mehr in ihrem Leben eine Boutique eröffnen wird, weiß sie auch, was das tägliche Risiko heißt: Es bedeutet den Verlust des Visums. Und das Ende des Geschäfts.
Luda hat geschwitzt, deshalb pudert sie sich. Grundierung bronzefarben, Wangenrouge rosé. Luda ist jetzt 34. Sie ist hübsch, hat blaue, lebhafte Augen, doch um Augen und Mund haben sich Fältchen gegraben. Mehr, als man mit 34 haben müsste. Dies ist ihr kurzer Moment innerer Einkehr: wenn sie ihr Gesicht in Ordnung bringt. Gleich wird sie unbeteiligt aus dem Fenster sehen.
Während der Schaffner die Pässe einsammelt, schnappt Ludas Puderdose zu. Zwischen den Seiten der Dokumente liegt das Geld. So ist es jeden Tag. Noch wenige Minuten bis zum Zoll. Luda sieht durch die Scheiben Bäume und Felder vorüberfliegen, die sie in einigen Stunden in die andere Richtung fliegen sehen wird. Sie setzt die Kopfhörer ihres Discmans auf und bekreuzigt sich. Olga, das „Modern Girl“, bekreuzigt sich auch.
Die Festung Europa bedeutet für Luda vor allem: Ihre Zeit ist nichts mehr wert. Früher genügte es, alle zwei, drei Tage mit der Bahn zu fahren. Nun verbringt die Familie fast all ihre Zeit im Zug, damit das Geschäft sich lohnt. Man reist über die Ländergrenzen, um stets umzukehren, wenn man gerade sein Ziel erreicht hat. Die Mauer um Europa ist kein Wall, sie ist eine Warteschleife. Dass Przemysl sich von der Ukraine abgewandt hat, dass kaum noch Schilder in ukrainischer Sprache an Hotels und Geschäften zu lesen sind, wie vor zwei Jahren noch, fällt Luda nicht auf. Sie hat weder Zeit noch Geld, hier zu flanieren.
Wenn sie nicht zu Zügen hasten, auf Zügen Waren packen, Waren von Zügen herunterpacken – dann warten Luda, Olga und Andrej auf dem Amt. Die Visabehörde schließt manchmal am Abend und man war noch nicht dran. Das Herumhasten ist so ähnlich wie das Warten, findet Luda.
Der Zug hält. Die Zollbeamten kommen durch den Gang. Die polnische Zöllnerin ist eine Frau in Ludas Alter. Sie sieht aus wie eine erfolgreiche Frau. Nachlässig klappt sie die eine oder andere Liege hoch. Die Verstecke sind leer. Niemand ist überrascht. Die Schmuggler lassen die Fächer immer leer – zu offensichtlich. Höchstens deponieren sie dort mal einen Köder für den Zoll. Auf dem Rückweg tragen die Beamten einige Stangen Zigaretten wie Trophäen unter dem Arm. Sie schlendern. Nichts Besonderes. Irgendeine andere Luda hat gerade ihren Job verloren.
Der Zug fährt an. Wir rollen nach Europa. Heute und morgen wieder. Und übermorgen auch. Vor den Toren Europas zu sitzen bedeutet nicht: Du kommst hier nicht rein. Es bedeutet nur: Du kommst niemals vom Fleck. Europa ist ein großes Tier, das atmet, denkt Luda. Es atmet ein und aus.
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