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Da geht noch was

PAMPHLET Die Künstlerinnengruppe um das Haus Bartleby plädiert im Sammelband „Sag alles ab!“ für einen lebenslangen Generalstreik und sucht nach Gegenmodellen zum nur scheinbar alternativlosen Kapitalismus

Alle wollen Veränderungen, wissen nur nicht so recht, wie sie zu erreichen sind

von JÖRG SUNDERMEIER

Revolte machen ist nicht schwer, Revolutionär sein ist’s dagegen sehr. Wir kennen den Spruch. Doch immer wieder reizt es Leute zu mehr als nur einem mehr oder minder hilflosen Losgepoltere, zu mehr als nur verbalem Widerstand gegen die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Künstlerinnengruppe um das Haus Bartleby hat daher beschlossen, gegen die Verhältnisse anzugehen, und das alsbald in Form eines Tribunals – eines Kapitalismustribunals, dessen dritte Vorverhandlung (zum Thema Recht) am 4. Oktober im Heimathafen Neukölln stattfindet.

Denn die Gruppe um Alix Faßmann, Anselm Lenz, Jörg Petzold und Patrick Spät ist wild entschlossen, den ungeliebten und nur scheinbar alternativlosen Kapitalismus zu Fall zu bringen und mit ihm die Ausbeutung der Individuen zum Wohle einiger weniger Profiteure. Um das Kapitalismustribunal theoretisch und ökonomisch vorzubereiten – und zweifelsohne auch, um ihrem Anliegen ­möglichst viel Gehör zu verschaffen –, hat die Gruppe den Band „Sag alles ab!“ (Edition Nautilus, 140 Seiten 14,90 €) herausgegeben, benannt nach dem sehr bekannten Tocotronic-Song, dessen Text auch im Band enthalten ist.

Es geht, wie es im Untertitel des Buches heißt, um einen „lebenslangen Generalstreik“, für den der Hausheilige der Gruppierung steht, Bartleby. Dieser ist eine Figur des amerikanischen Klassikers Herman Melvilles. In der gleichnamigen Melville-Geschichte verweigert der sehr höfliche und zuvorkommende, doch auch etwas scheue und seltsame Bartleby zusehends jede Arbeit, weigert sich aber gleichzeitig sein Büro zu verlassen, sodass sich der Arbeitgeber schließlich zum Umzug genötigt sieht. Bartleby verweigert aber auch mit seinem berühmten Satz „I would prefer not to“ jegliche weitere Tätigkeit, am Ende sogar die Nahrungsaufnahme, der Mann stirbt buchstäblich vor den Augen seines entsetzten und verwirrten Chefs weg. Damit ist er zur Idealfigur der Totalverweigerer geworden, leistet er doch – gewaltlos und höflich – Widerstand gegen die vorherrschenden Normen, er würde es eben vorziehen, nicht mitzumachen. Diesem Ideal hat sich das Haus Bartleby verpflichtet, wenngleich seine Mitgleider wohl eher nicht danach streben, am Ende ihres lebenslangen Generalstreiks verhungert zu sein.

Es geht auch um Spaß. Und so finden sich widersprüchliche Beiträge in dem Buch, Antonia Baum etwa plädiert energisch für den Schlaf, von dem sie sich einzig hat durch das Schreiben ihres Textes abringen lassen, Sonja Eismann schildert anschaulich die Kämpfe einer jungen Mutter und freien Journalistin um ein bisschen Freiraum – den sie sich dann ebenfalls durch das Schreiben ihres Textes geraubt hat. Anne Waak plädiert für die freie Partnerwahl in der Liebe, Deichkind besingen in einem Songtext die Freuden des „Hochbückens“, David Graeber ereifert sich über Bullshit-Jobs, die einem nichts bringen, und der Dandy-Sozialist Yanis Varoufakis darf nochmal seine Visionen für Europa verbreiten. Auch der im Zusammenhang mit dem politischen Müßiggang obligatorische Beitrag von Guillaume Paoli fehlt selbstredend nicht. Lucy Redler, deren Beruf und Berufung einzig die Revolution ist, will dann auch nochmal von der mächtigen Arbeiterklasse und ihrem umstürzlerischen Potenzial erzählen. Dazu werden ein paar gut gemeinte Agit-Comics aufgeboten, deren Naivität und Niedlichkeit jedoch eher verwirrt als aufklärt.

Die Fragen der Bartlebys an die Beiträgerinnen und Beiträger waren klar: „Warum arbeiten wir? Für wen? Wofür? Was ist Arbeit und was nicht? Und müssen wir das alle machen – Arbeit?“ Die Antworten könnten unterschiedlicher nicht sein. Glaubt der eine noch an die Klassengesellschaft und bestätigt sich selbst seine Radikalität durch die Verwendung des restlos entleerten Begriffs „Neoliberalismus“, ergeht sich die andere in abgedroschenen sozialrevolutionären Parolen, wohingegen ein dritter wieder gar nicht so sehr an die Ablösbarkeit des Kapitalismus glaubt, aber selbstverständlich auch irgendwelche Reformen verlangt. Nahezu alle wollen irgendwie streiken, aber keiner will zu viel oder aber zu wenig, und alle wollen irgendwie irgendwelche Veränderungen, aber sie wissen nicht so recht, wie diese zu erreichen sind – oder aber sie wissen es allzu sehr.

Der Dramatiker Nis-Momme Stockmann erinnert an das historische Versagen der Linken (zu der er sich selbst zählt), und macht darauf aufmerksam, dass die Abschaffung des Kapitalismus eher „harte Arbeit“ ist (“Thema verfehlt“). Anselm Lenz dagegen fordert: „1. Abschaffung der Berufspolitik, 2. Auflösung des Großeigentums, 3. Unabhängige Medienbetriebe.“ Kurz es wird viel Wind gemacht und einiges gesagt. Niemand aber will in diesem Band zurück zu Marx oder gar – Gottseibeiuns! – Lenin, doch alle wollen irgendwie den Umsturz.

Am Sonnabend wird der Band nun jedenfalls vorgestellt, und es ist sicher interessant, mit den Bartlebys aus dem gleichnamigen Haus sich zu treffen, die Thesen des Buches zu diskutieren oder mit ihnen zu faulenzen. Das Buch endet mit der Aufforderung „Fang alles an“ – da geht also noch was.

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