: Flammende Nächte
aus Paris DOROTHEA HAHN
Gut eine Woche, nachdem in der östlich von Paris gelegenen Vorstadt Clichy-sous-Bois ein 15-jähriger und ein 17-jähriger Junge in einem Trafohäuschen durch einen Stromschlag umgekommen sind, hat die Randale, die noch am selben Donnerstagabend eingesetzt hat, immer größere Teile der französischen Banlieue erfasst.
Erstmals brannten nicht nur Vorstädte von Paris, sondern auch von Marseille, Dijon und Rouen. In der Nacht zu gestern verkohlten dabei mehr als 500 Autos, zahlreiche Busse, eine Sporthalle, Geschäfte und kleine Restaurants. Mehrere Bahn- und Straßenbahnlinien rund um Paris standen gestern wegen Sachschadens still. Mehrfach haben bei den nächtlichen Auseinandersetzungen jugendliche Barrikadenkämpfer auch scharf geschossen.
In der Vorstadt übersprühten Jugendliche eine 56-jährige behinderte Frau, die sich mit Hilfe des Busfahrers aus einem brennenden Bus retten wollte, mit Benzin. Sie erlitt schwere, der Fahrer leichte Verbrennungen. Der Bruder eines der umgekommenen Jugendlichen hat inzwischen an seine Altersgenossen appelliert, „sich zu beruhigen und aufzuhören, mehr oder weniger alles zu verwüsten“.
Polizeiintern läuft eine Untersuchung über die Todesumstände der beiden Jungen. Ihre Freunde sind der Ansicht, dass die beiden von Polizisten gejagt wurden. Inzwischen ist bekannt, dass zumindest ein Polizist gesehen hatte, wie die beiden Jungen über die Mauer zu dem Trafohäuschen geklettert sind. Er hatte seine Vorgesetzten verständigt. Der Anwalt der Familien der Toten spricht von „unterlassener Hilfeleistung“.
Die Mehrheit der nicht an den Aufständen beteiligten Bewohner der Stadtteile, insbesondere die Mütter und Väter sowie junge Frauen und Männer, ziehen sich nachts in ihre Wohnungen zurück. Wer sie tagsüber nach den nächtlichen Auseinandersetzungen fragt, erhält als Antwort Resignation ob der verbrannten Autos und meist auch Verständnis für die ausweglose Lage der straßenkämpfenden Jugendlichen.
Die Jugendlichen selbst, die mehrheitlich zwischen 14 und 25 Jahre alt sind, formulieren nur zwei „politische“ Ziele: Sarkozy muss weg. Und die Polizei soll verschwinden. Letztere Forderung haben sich auch die Sprecher zahlreicher linker Organisationen zu Eigen gemacht.
In Paris hat Regierungschef Dominique de Villepin im letzten Moment eine Reise nach Kanada abgesagt und mehrere Krisensitzungen einberufen. Auch Politiker der Opposition sowie die Sprecher von zahlreichen Bürgerinitiativen beteiligten sich daran.
Innenminister Nicolas Sarkozy, den sowohl die Jugendlichen auf der Straße als auch Oppositionspolitiker als politischen Brandstifter bezeichnen, macht „30 Jahre“ Vorstadtpolitik für die Lage verantwortlich. Damit schiebt er die Verantwortung für die Zuspitzung auf die Politik der Vorgängerregierungen ab.
Die meisten betroffenen Vorstädte von Paris liegen in dem, was jahrzehntelang der rote Gürtel rund um die französische Hauptstadt war. Heute sind viele dieser Arbeiterstädte von sozialdemokratischen oder konservativen Bürgermeistern regiert und mehrheitlich von den Nachfahren von Einwanderern aus Nordafrika und Schwarzafrika bewohnt. Anders als in den Nachkriegsjahrzehnten relativer Vollbeschäftigung grassiert dort heute Massenarbeitslosigkeit. Die Steuereinnahmen in diesen Gemeinden sind wegen des Wegzugs der letzten Unternehmen ebenso radikal gesunken wie die staatlichen Subventionen. Selbst die Zahl der ständig in den örtlichen Kommissariaten arbeitenden Polizisten ist Opfer der Sparpolitik. So sind in der Pariser Vorstadt Sevran von 120 Polizisten im Jahr 2001 heute nur noch 80 übrig, erklärt der kommunistische Bürgermeister des Ortes, Stéphane Gatignon. Die „Nachbarschaftspolizei“, die in ständigem Kontakt zu den Anwohnern stand, hat die rechte Regierung abgeschafft.
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