: Die Streberinflation
LEISTUNG Eine neue Studie zeigt: Promovierende kassieren zunehmend Bestnoten – ähnlich wie Schüler und Uniabsolventen. Das ist schlecht für alle Beteiligten
von Ralf Pauli
Man erinnert sich an das eigene Abitur: Der schulbekannte Streber hatte natürlich auch bei den entscheidenden Prüfungen eine 1,0. Klar. Schließlich sahnte er in allen Fächern immer Bestnoten ab. Die ganze Klasse verglich ihre Leistungen mit seinen: „Ich hab nur drei Punkte weniger als der Andi.“
Aber diese einfache Orientierung gibt es nicht mehr. Denn es gibt eine Streberinflation. In manchen Bundesländern wie Niedersachsen war der Anstieg der Einser-Schnitte in den letzten Jahren so auffällig, dass nicht nur ihre Aussagekraft, sondern ihre bundesweite Vergleichbarkeit debattiert wurde. Machen die LehrerInnen hier einen besseren Job als anderswo? Sind die SchülerInnen klüger? Die BildungsministerInnen wiegeln ab: Es gebe keine Einser-Inflation. Dennoch ist der Anteil der Einser-Schüler in fast allen Bundesländern angestiegen.
Föderalismus ist schuld
Die unterschiedlichen Schulnoten lassen sich noch auf den Föderalismus schieben: leichtes Abi in Thüringen, schweres in Bayern, und so weiter. Schwerer hingegen kann man die Bestnotenschwemme an Hochschulen erklären, weil jede Hochschule ihre eigenen Prüfungsregeln aufstellt. Nach einer aktuellen Untersuchung des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (IFQ) haben sich in den vergangenen zehn Jahren die durchschnittlichen Promotionsnoten verbessert – und zwar in fast allen Fachbereichen. Teilweise hat sich der Anteil der Bestnoten fast (wie in der Anglistik) oder mehr als verdoppelt (Verwaltungswissenschaften). Das zeigt ein Auswertung der Daten in der Süddeutschen Zeitung. Nur Juraprofs und Mediziner sind demnach knausrig mit dem „summa cum laude“.
Das Problem dieser Entwicklung ist das Gleiche wie bei den Abinoten: Die Bestleistungen sind in der Fülle nicht mehr aussagekräftig – und lassen sich kaum miteinander vergleichen: Im Fach Architektur beispielsweise werden an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart 50 Prozent aller Absolventen mit Auszeichnung verabschiedet, an der Bauhaus-Uni in Weimar sind es 2 Prozent.
Die Qualitätswächter vom IFQ machen diejenigen dafür verantwortlich, die die Leistungen bewerten: Schulen und Hochschulen. Wer viele Spitzennoten vergibt, begibt sich mit jeder schlechten Bewertung unter Rechtfertigungsdruck.
Das vernichtende Urteil hätten die Bildungseinrichtungen vorhersehen können. Schon vor zwei Jahren warnte der Wissenschaftsrat davor, die eigenen Bewertungsstandards aufzuweichen. Gerade Bachelor-Absolventen heimsten über alle Fächer hinweg überwiegend gute oder sehr gute Noten ein. Der Wissenschaftsrat sah darin eine Folge der Bologna-Reform, die dem deutschen Diplom ein Ende setzte und ein Studium mit zwei aufeinander aufbauenden Abschlüssen einführte. Und welche Uni will ihren StudentInnen schon die Aussicht auf einen Masterplatz mit schlechten Noten verbauen?
Man könnte es auch so formulieren: Dass die Leistungen deutscher StudentInnen als Ausweis hervorragender Forschung herhalten müssen, ist der Preis dafür, dass Studienabschlüsse international vergleichbar gemacht wurden. Aber das ist schlecht für alle Beteiligten: für Schülerinnen und Schüler, weil sie sich nicht mit einer Zwei abfinden können, wenn die halbe Klasse eine Eins hat. Für LehrerInnen und Lehrer, weil sie unterscheiden müssen zwischen sehr guten und hervorragenden Leistungen. Für Studierende und Promovierende, weil eine geringere Abschlussnote als die bestmögliche einer drittgradigen Formulierung aus dem Schulzeugnis gleichkommt.
Und letztlich ist es schlecht für die Hochschulen selbst, die mit sehr guten Notenquoten auch diejenigen Studierenden anlocken, denen mehr an einen Abschluss mit Auszeichnung gelegen ist, als den spezifischen Forschungsmöglichkeiten an der jeweiligen Hochschule.
Damit wäre auch dem Bildungsstandort Deutschland nicht gedient.
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