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Im dunklen Zimmer, vollgekotet

Polizei findet zwei völlig verwahrloste Kinder in Wilhelmsburg. Parallelen zum Fall Jessica. Opposition sieht Mitverantwortung von Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) und fordert Budget-Aufstockung bei den Sozialen Diensten

von Marco Carini

Die Paralellen zum „Fall Jessica“ drängen sich auf: Wie am Wochenende bekannt wurde, hat die Polizei bereits am 23. Oktober zwei stark verwahrloste Kinder in einer Wilhelmsburger Dachgeschosswohnung entdeckt. Die vierjährige Bianca und der zweijährige Brian schliefen in einem abgedunkelten Zimmer auf ihren vollgekoteten, urindurchnässten Matratzen. In der ganzen elterlichen Wohnung türmten sich Müll, verschimmelte Essensreste, benutzte Windeln und Zigarettenkippen.

Im Kinderzimmer waren die Türklinken und Fenstergriffe von den Eltern abgeschraubt worden, offenbar um die Kleinkinder am Verlassen des Raumes zu hindern. Anders als im „Fall Jessica“ waren die aufgefundenen Kinder zwar völlig vernachlässigt, aber körperlich gesund. Sie wurden in ein Kinderschutzhaus gebracht.

Parallele Nummer zwei: Wie im Fall Jessica griffen auch bei Brian und Bianca die zuständigen Ämter nicht ein, obwohl wesentliche Informationen vorlagen. Es war die Mutter selbst, die nach einem Streit mit ihrem drogenabhängigen Lebensgefährten, der ihr den Weg in die gemeinsame Wohnung versperrte, die Polizei rief. Ohne diesen Beziehungsstreit wäre die Vernachlässigung nicht ans Licht gekommen.

Dabei war die Familie bereits früher den Ämtern aufgefallen: Im Bezirk Mitte, wo die Familie bis Frühjahr 2004 lebte, hatte sie Hilfen zur Erziehung und eine Beistandschaft erhalten. Auch die Jugendgerichtshilfe war eingeschaltet worden. Als das Pärchen umzog, wurden die Akten offenbar nicht nach Harburg weitergeleitet. Wie es zu dieser Panne kam, ist noch ungeklärt.

Für das Harburger Jugendamt gab es bei der Familie laut Sozialbehördensprecherin Katja Havemeister keine Auffälligkeiten. „Es hat nichts darauf hingedeutet, dass eine Gefährdungslage vorgelegen hat“, so Havemeister.

PolitikerInnen aller Parteien fordern nach dem neuen Verwahrlosungsfall einschneidende Konsequenzen. „Da stimmt etwas im System nicht, wenn solche Betreuungsakten nicht weitergeleitet werden“, beklagt Ralf-Dieter Fischer (CDU). CDU-Parteichef Dirk Fischer hingegen betont, es werde „immer Fälle geben, die sich nicht verhindern lassen, wenn man nicht einen Kontrollstaat einrichtet und das Elternrecht auf unakzeptable Weise beschneidet“.

Der SPD-Bürgerschaftler Dirk Kienscherf befürchtet „nach diesem neuen Fall, dass hier im Verborgenen eine Zeitbombe kindlichen Elends tickt“. Er forderte Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) zu einer „umfassenden Überprüfung von Fällen“ auf, in denen aktenkundig gewordene Familien „den Zuständigkeitsbereich von Jugendämtern gewechselt haben“. Es würden sich „die Anzeichen mehren, dass die desolaten Rahmenbedingungen der Allgemeinen Sozialen Dienste Fehlern Vorschub leisten“.

Das sieht auch die sozialpolitische Sprecherin der FDP, Martina Kaesbach, so. Sie beklagt, dass der Senat „die Gelder für das Amt für Soziale Dienste ausgedünnt“ habe und spricht sich für „eine deutliche Personal- und Budgetaufstockung“ in diesem Bereich aus. GAL-Fraktionschefin Christa Goetsch fordert Schnieber-Jastram auf, „endlich zu handeln“, und ein „fallbezogenes, behördenübergreifendes Fallmanagement“ einzurichten.

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