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Das Montagsinterview„Die Gemeinschaft der Gehörlosen ist eine Oase“

Der Gebärdensprachlehrer Thimo Kleyboldt changiert erfolgreich zwischen der Welt der Gehörlosen und der HörendenHÖREN ODER SEHEN Den gehörlosen Hamburger Wissenschaftler und Dozenten Thimo Kleyboldt stört das alte Klischee vom dummen Gehörlosen. Seit der offiziellen Anerkennung der deutschen Gebärdensprache seien die Barrieren jedoch niedriger geworden – und Hörende eher fasziniert als irritiert

Thimo Kleyboldt, 40

war zunächst als Bauzeichner tätig und studierte anschließend Pädagogik, Psychologie und Soziologie mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung.

■ Seit 1994 arbeitet Kleyboldt an verschiedenen Institutionen in Frankfurt, Hamburg und Schleswig-Holstein als Gebärdensprachlehrer.

■ Seit 2003 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Deutsche Gebärdensprache. Dort ist er für die Erhebung und Analyse von Fachgebärden und für die Erstellung von Fachlexika zuständig.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Kleyboldt, warum fällt es den Hörenden so schwer, Gebärdensprache zu lernen?

Thimo Kleyboldt: Weil sie nicht gewohnt sind, ihre Mimik so einzusetzen, wie es für die Gebärdensprache nötig ist. Selbst bei Hörenden, die sehr flüssig gebärden, ist die Mimik oft nicht ausdrucksstark genug. Dabei hat sie in der Gebärdensprache grammatikalische Funktion. Den Satz „Du gibst mir ein Buch“ kann ich erstaunt, fragend oder ungläubig gebärden. Außerdem haben Hörende anfangs oft Probleme mit ihrer Motorik und gebärden ungenau. Auch bei der Satzstellung müssen sie sich umstellen: Sie lautet nicht, wie in der Lautsprache, Subjekt, Prädikat, Objekt, sondern: Subjekt, Objekt, Prädikat. Also: Vater – Auto – waschen.

Wie gebärdet man Vergangenheit?

Da gibt es einerseits die Gebärde „gewesen“. Also: Ich – Buch – gewesen – geben. Ich kann aber auch eine Zeitangabe voranstellen: „gestern“, „vorige Woche“ – und die gilt dann sozusagen bis auf Widerruf.

Wer Gebärdensprache verstehen will, muss also ein gutes Gedächtnis haben.

Nein. Denn für mich findet das Ganze in einem Bild vor meinem geistigen Auge statt. Ich muss mir da nichts mühsam merken. Und wenn die nächste Zeitangabe folgt, bin ich in einem neuen Film im Kopf, in einem neuen Szenario.

Arbeitet Gebärdensprache stärker mit Bildern als Lautsprache?

Was die Raumnutzung und das bildhafte Denken betrifft, ist die Gebärdensprache der Lautsprache überlegen. Wenn ich sage: Die Katze springt auf das Dach und spaziert über den Dachfirst, hat jeder Zuhörer ein anderes Bild im Kopf. Wenn ich das in Gebärdensprache erzähle, imaginieren alle dasselbe, weil ich die Dinge eindeutig im Raum platziere. Die Gebärde „Haus“ zeigt klar an, wo der Giebel ist und wo das Haus im Raum steht.

Aber Sie stellen sich vielleicht ein rotes Haus vor und ich mir ein blaues.

Zugegeben, die Farben können variieren. In diesem Punkt sind die Bilder vielleicht doch nicht ganz gleich. Es ging mir eher um die Anordnung der Dinge im Raum.

Stimmt es, dass viele Gehörlose nicht lesen können?

Lesen können sie, aber sie begreifen eventuell den Inhalt nicht. Denn Gehörlose, die auf Schulen gehen, in denen nicht gebärdet wird, entwickeln Lernrückstände. Die Gehörlosen sollen in die Hörenden-Gesellschaft integriert werden. Aber das perfekte Artikulierenmüssen überfordert sie. Zum anderen gibt es keine gemeinsame Sprachebene zwischen Lehrer und Schüler, sodass die Wissensvermittlung nur bruchstückhaft gelingt. Deshalb haben gehörlose Schulabgänger oft den Wortschatz eines hörenden Drittklässlers.

Sie erstellen Fachlexika. Wie funktioniert das?

Zur Zeit erstellen wir ein Lexikon für Garten- und Landschaftsbau. Dafür laden wir gehörlose Gärtner aus ganz Deutschland ein. Das ist wichtig, weil es in der Gebärdensprache verschiedene Dialekte gibt. Wir fragen unsere Gäste nach ihren Gebärden für bestimmte Wörter. Gibt es – etwa für Abstrakta – keine Gebärde, erarbeiten wir einen Vorschlag.

Und wer verwendet die Gebärdenschrift, die Sie eben an die Tafel gezeichnet haben?

Das ist das Hamburger Notationssystem, das am Institut für Gebärdensprache entwickelt wurde. Es ist der Versuch, Gebärdensprache zu verschriftlichen und ist vor allem für Linguisten gedacht.

Wie viel Prozent der Gehörlosen besuchen derzeit noch Schulen für Gehörlose?

Der Anteil der Gehörlosen nimmt insgesamt ab. Das liegt an der verbesserten Vorsorge für Schwangere. Außerdem werden immer mehr gehörlose Kinder mit Cochlear-Implantaten ausgestattet. Diese fühlen sich später eher der Gruppe der Schwerhörigen zugehörig. Andererseits öffnen sich junge Schwerhörige immer mehr der Gebärdensprache. Das hilft ihnen, sich in beiden Welten heimisch zu fühlen.

Ist die Gehörlosenkultur eine hermetische Welt?

Die Menschen fühlen sich durch Sprache und Erfahrungen eng verbunden. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine Oase, in der auch Kunst entsteht – Gebärdensprach-Poesie etwa. Außerdem haben wir Gehörlosenwitze – über die Hörende oft nicht lachen.

Ein Beispiel?

Der klassischste Witz handelt von einem gehörlosen Hotelgast, der nachts nicht nur seinen Schlüssel, sondern auch seine Zimmernummer vergessen hat. Verzweifelt sucht er sein Zimmer. Anklopfen kann er nicht, denn auch seine Frau ist gehörlos. Wie gut, dass das Hotel ausgebucht ist: Er geht raus zu seinem Auto und hupt, bis in allen Hotelzimmern Licht brennt – bis auf eins. „Da muss meine Frau sein!“, schmunzelt der Gast.

Welches Klischee über Gehörlose stört Sie am meisten?

Dass Gehörlose dumm sind. Das hat historische Gründe: Früher war der Gehörlose oft der „Dorftrottel“, weil er keinen Zugang zu Bildung hatte. Inzwischen können Gehörlose jeden Bildungsweg einschlagen. Entscheidend hierfür war 1978 die Gründung der Essener Kollegschule, an der Hörgeschädigte das Abitur machen können. Allerdings gab es an den Universitäten anfangs kaum professionelle Gebärdensprach-Dolmetscher. 1987 wurde das Hamburger Institut für Deutsche Gebärdensprache gegründet, das zum Diplom-Gebärdensprachdolmetscher ausbildet. Seither sind die Barrieren kontinuierlich gesunken.

Sie waren Bauzeichner und haben dann Pädagogik und Soziologie studiert. Warum?

Ich habe lange als Bauzeichner in einer hörenden Umgebung gearbeitet. In meiner Freizeit habe ich Gebärdensprache unterrichtet und war in der Gehörlosen-Community aktiv. Das hat meine ganze Freizeit ausgefüllt, sodass ich irgendwann beschloss, mein Hobby zum Beruf zu machen.

Haben viele Gehörlose Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl?

Durch die Anerkennung der Gebärdensprache hat sich das Selbstwertgefühl sehr gewandelt. Vor 20 Jahren war das schwieriger: Wenn sich Gehörlose in der U-Bahn unterhielten, haben die Hörenden irritiert geschaut. Sogar Lehrer und Eltern haben damals die Gebärdensprache als „Affensprache“ bezeichnet und von den Gehörlosen verlangt, dass sie sprachen. Seit die Deutsche Gebärdensprache offiziell anerkannt ist, hat sich das geändert. Wenn heutzutage Hörende Gehörlose beobachten, sind ihre Blicke eher fasziniert.

Ihre drei Kinder wachsen zweisprachig auf. Sind alle gleich eifrig?

Ich habe den Eindruck, dass mein Ältester – er ist neun – besser gebärden kann als die anderen. Das liegt daran, dass er zur Welt kam, als meine Frau und ich noch studierten. Damals hatten wir mehr Zeit und haben viel gebärdet. Inzwischen arbeiten wir sehr viel, und im Kindergarten und in der Schule sind sie umgeben von Hörenden. Es wird also eigentlich immer lautsprachlich gesprochen. Aber wenn wir als Familie in den Urlaub fahren, gebärden die Kinder mehr.

Ärgert es Sie, wenn Ihre Kinder im Gespräch mit Ihnen in die Lautsprache verfallen?

Das kommt drauf an. Wenn mein Kind mich anschaut, können wir problemlos gebärden. Manchmal ist es aber unaufmerksam und schaut in der Gegend herum. Dann bin ich quasi gezwungen, mich lautsprachlich zu äußern, denn ohne Blickkontakt findet ja keine Kommunikation in der Gebärdensprache statt.

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