piwik no script img

Die WahrheitLob des Sitzenbleibens

Hartmut El Kurdi
Kolumne
von Hartmut El Kurdi

Ein neues Phänomen geht um – besonders in der Fernsehwelt: Alle stehen ständig auf und tun so, als ob sie gaaaaanz, gaaaaanz locker wären.

A ufstehen ist eine ambivalente Angelegenheit: Morgens aufstehen ist doof, vorm Lehrer aufstehen und chorisch „Guten Morgen“ bellen ist doof und „Steh auf, wenn du ein Schalkerborussenlöwe bist“ singen ist auch doof.

Andererseits kann das Aufstehen auch Charme haben. Stets sympathisch ist es im rebellischen, eben aufständischen Sinne: „Get up, stand up – stand up for your rights.“ Feine Sache.

Auch das höfliche Aufstehen ist lobenswert. Früher, wenn eine ältere Dame den Bus betrat, stand man auf, weil die älteren Damen damals – in Gegensatz zu den rüstigen Fitnesssenioren heute – oft etwas wackelig auf den Beinen waren. Das lag vor allem an ihren gigantischen Büstenhaltern mit Stahlgerüstkonstruktion und Beton-Inlays. Diese destabilisierenden Vorneübergewichte konnten die Omis selbst durch ihre breiten, viel Bodenhaftung versprechenden Rumtöpfchenfiguren nicht ausgleichen.

Da genügte ein kleiner Buswackler und schon kippelten, taumelten und stürzten sie – pardauz – auf den Boden und brachen sich die Hüfte. Um das zu verhindern, stand man auf, damit die Omidamen sich setzen konnten.

Aber neuerdings gibt es noch eine andere Variante des Aufstehens. Zum ersten Mal beobachtete ich diese bei der Casting Show „The Voice of Germany“. Zunächst ging alles seinen üblichen Gang. Plötzlich jedoch stand ein Jury-Mitglied mitten in der Performance eines Kandidaten einfach so vom Sessel auf. Wozu? Um die eingeschlafenen Beine auszuschütteln? Um mal kurz irgendwohin zu verschwinden? Nein, die Person – ich befürchte, es war Nena – begann in die Hände zu klatschen und auf eine verstörende Weise ebenso exaltiert wie gehemmt zu tanzen, alleine, autistisch, hilflos.

Ein jämmerliches Bild: Auf der Bühne ein singender, arbeitender Künstler und in circa zehn Meter Entfernung ein prätentiös vor seinem Sessel herumzappelndes Jurymitglied. Vermutlich sollte das vermitteln: Hey, ich bin locker, ich bin spontan – ich bin internationaler Pop! Aber das Ganze wirkte so fehlplatziert wie die tragische, angetrunkenen Mittfünzigerin, die beim Stadtfest auf dem leeren Platz vor der Bühne des lokalen Hip-Hop-Acts arhythmisch headbangt.

Inzwischen wird in der deutschen TV-Landschaft flächendeckend aufgestanden. Seinen vorläufigen Höhepunkt hat dieses Phänomen nun in der Show „Sing meinen Song“ erreicht. Unter der Leitung von Reichsmusikführer Xavier Naidoo tauschen abgehalfterte Stars ihre Lieder und singen sie sich gegenseitig vor.

Dabei werden zunächst oft Tränen der Rührung vergossen ob der gegenseitigen musikalischen Würdigungen, aber dann passiert es: Resurrection! Die auf einer Couch sitzenden Poptoten stehen wieder auf. Ohne Grund. Und sie tanzen. Privat. Im Halbkreis. Wie auf einer Wohnzimmer-Ü-40-Party. Mit Couchtisch in der Mitte. Und man selbst muss sein Gesicht abwenden, damit man nicht aus Scham blind wird. Und plötzlich erinnert man sich an die weisen Worte des indianischen Zen-Meisters Sitting Bull: „Nur wer nicht aufsteht, kann sitzen bleiben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Hartmut El Kurdi
Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Die Worte "…die weisen Worte des indianischen Zen-Meisters Sitting Bull:

    „Nur wer nicht aufsteht, kann sitzen bleiben.“ -

    teile ich mit Quarta&Untertertia uneingeschränkt.

     

    Aber auch da gilt jenseits von Sitzen

    Aufstehen Hinsetzen -

    99 Luftballons & Bleiben -

    "Schlafen könnt ihr -

    Wenn ihr tot seid."

    (Avanti Dilletanti - Köln;)