Gedenken an Flüchtlinge und Vertriebene: „Der Vorbehalt bröckelt immer mehr“
Kann man Vertriebenen und Flüchtlingen gleichzeitig gedenken? Ja, sagt der Historiker Stephan Scholz, denn schon jetzt gibt es ein Gefühl der Verbundenheit.
taz: Herr Scholz, an diesem Samstag begeht Deutschland zum ersten Mal einen bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Warum jetzt?
Stephan Scholz: Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat noch vor fünf Jahren gesagt, wir bräuchten keinen bundesweiten Gedenktag für Flucht und Vertreibung. Es gibt ja bereits den Volkstrauertag, der aller Kriegsopfer gedenkt. Aber seit 1996 gibt es am 27. Januar den Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Gut möglich, dass deshalb der neue bundesweite Gedenktag für Flüchtlinge und Vertriebene ebenfalls aus dem Volkstrauertag ausgekoppelt wurde.
Kommt dieser Tag zu spät?
Ein bundesweiter Gedenktag wurde seit 2001 vom Bund der Vertriebenen (BdV) gefordert. Dabei gibt es schon einen ähnlichen Gedenktag, den „Tag der Heimat“ im September, aber eben nicht in staatlicher Regie. Die ehemalige BdV-Vorsitzende Erika Steinbach verfolgte mit der Verstaatlichung des Tages geschichtspolitische Ziele.
Welche denn?
Ein Gedenktag soll die erinnerungspolitischen Ziele des Verbands über sein Bestehen hinaus sichern. Es ist nämlich unsicher, wie lang es den BdV noch geben wird, seine Mitglieder sterben nach und nach aus. Um sein Bestehen zu sichern, haben der BdV und insbesondere Erika Steinbach die Legende in die Welt gesetzt, es wäre bis dato ein Tabu gewesen, öffentlich über Flucht und Vertreibung der Deutschen zu sprechen. Dem ist definitiv nicht so. In der deutschen Nachkriegszeit wurde immer über Flucht und Vertreibung gesprochen und geschrieben, selbst in der stark reglementierten DDR gab es Literatur dazu.
Eine Familie flieht 1945 aus dem Sudetenland. Zwei Brüder landen in der DDR, einer in der BRD. Einer empfindet sein Schicksal als gerechte Strafe. Der andere darf es als Vertriebenenvertreter zelebrieren. Der dritte stirbt.
Die persönliche Generationengeschichte unserer Autorin zum Tag von Flucht und Vertreibung lesen Sie in der taz.am wochenende vom 20./21. Juni 2015. Außerdem: Anfangs war sie die hübsche Frau zwischen nicht mehr ganz jungen Professoren. Jetzt plant Frauke Petry, AfD-Chef Bernd Lucke von der Spitze zu verdrängen. Wie weit will sie nach rechts? Und: Ein Paar wurde inhaftiert, weil es Sex im Schwimmbad hatte. Lohnt das? Oder bleibt man besser im Bett? Die Streitfrage „Rein oder raus?“ mit Gastbeiträgen der Rapperin Lady Bitch Ray und des Schriftstellers Saša Stanišić. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Wie unterscheiden sich Flucht, Vertreibung und Umsiedlung voneinander?
Der Begriff „Umsiedlung“ wurde in der DDR gebraucht, „Flucht und Vertreibung“ in der Bundesrepublik. Vertreibung sollte emotional das vermeintliche Unrecht zum Ausdruck bringen, Umsiedlung hingegen den Vorgang relativ nüchtern ohne emotionale Komponente beschreiben. Das Begriffspaar, Flucht und Vertreibung, zeigt, dass es mehrere Phasen gab. Viele Menschen flohen noch vor Kriegsende vor der Front Richtung Westen oder wurden von den NS-Behörden evakuiert. Dann gab es solche, die nach den Potsdamer Beschlüssen aus Polen oder der Tschechoslowakei ausgewiesen oder vertrieben wurden. In der BRD sind alle diese Gruppen 1953 im Bundesvertriebenengesetz als Vertriebene bezeichnet worden. Seit der Wiedervereinigung gilt diese Bezeichnung in Ost und West.
Der Gedenktag gilt sowohl deutschen Vertriebenen aus der Vergangenheit als auch aktuellen Flüchtlingen in der ganzen Welt. Wie passen diese beiden Gruppen zusammen?
43, ist Privatdozent am Historischen Institut der Carl v. Ossietzky-Universität Oldenburg und Autor des Buches „Vertriebenendenkmäler. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft“.
Am 20. Juni soll der weltweiten Opfer von Flucht und Vertreibung, sowie insbesondere der deutschen Vertriebenen nach 1945 gedacht werden. Dazu passt, dass der 20. Juni auch Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen ist. Die Vertriebenenverbände haben sich lange gewehrt, mit den Flüchtlingen, die heute nach Deutschland kommen, in einen Topf geworfen zu werden. Dieser Vorbehalt bröckelt aber immer mehr. Bei ehemaligen deutschen Vertriebenen und ihren Nachkommen gibt es heute ein größeres Gefühl der Verbundenheit mit heutigen Flüchtlingen.
Tun sich die Deutschen schwer, das Gedenken an ihre eigenen Opfer zuzulassen?
Ja. Und es geht auch gar nicht anders, weil die Deutschen eine Tätergeschichte haben. Sie sind verantwortlich für den Zweiten Weltkrieg, der zu diesen Opfern geführt hat. Trotz dieser Schwierigkeit ist es richtig, sich weiterhin auf gesellschaftlicher Ebene, aber auch in der eigenen Familie mit dieser schwierigen Geschichte zu beschäftigen. Aber sie sollte nicht erst 1945 mit dem Vormarsch der Roten Armee beginnen. Die Betroffenen haben nicht erst am Kriegsende die Bühne ihres Lebens betreten. Sie haben bereits ab 1939 bestimmte Rollen ausgeübt und waren Teil der nationalsozialistischen Vorgeschichte. Das Leiden dieser Menschen sollte gewürdigt werden, indem diese Geschichten erzählt werden, aber die Vorgeschichte darf nicht ausgeklammert werden.
In der DDR gab es keine Vertriebenenverbände. Was für Folgen hatte das für Betroffene?
In der DDR hatten sicherlich viele Menschen das Gefühl, sich zu ihrer eigenen Geschichte nicht frei äußern zu können und sie verstecken zu müssen. Aber auch in der BRD haben die Vertriebenenverbände eine öffentliche Aufarbeitung für Westdeutsche erschwert. Sobald man sich nämlich mit diesem Thema beschäftigte, befand man sich in der Nähe des geschichtspolitischen und revisionistischen Diskurses der Verbände und konnte mit ihnen vorschnell identifiziert werden. Es war auch schwierig, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen, weil das schnell nach Revisionismus roch und eine Fixierung auf die eigenen Opfer drohte.
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