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Reise nach NantesDie Insel der Wunderwelten

Künstler verwandeln das bretonische Nantes mit viel Getier in einen Garten voller Überraschungen. Schaulustige bestaunen gelbe Riesen.

Die Riesengiraffe in Nantes. Foto: Robert B. Fishman

Mama, warum bewegt er sich nicht mehr?“, fragt die Kleine am Nebentisch. „Keine Sorge“, tröstet die Mutter, „er schläft nur.“ Das Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, stutzt einen Moment. Dann nickt sie zufrieden. Ihren großen Freund sieht sie morgen wieder. Mit geschlossenen Augen ruht der rund zehn Meter hohe Elefant unter dem Glasdach der Machines de l’Ile, der „Maschinen der Insel“, in Nantes.

Am nächsten Morgen stehen die Menschen an der Kasse nebenan wieder Schlange. Hier gibt es die Fahrkarten für den Ritt auf dem Elefanten, den ein Team um den künstlerischen Leiter François Delarozière aus Holz, Leder, Pumpen, Stahlträgern und Motoren gebaut hat: „Unsere Inspiration bekommen wir von der Natur“, erklärt der 51-jährige in der ehemaligen Schiffbauhalle, die sein Team zur Werkstatt für ihre Fabeltiere umgebaut hat. Kunststoff verwenden die Künstler von La Machine grundsätzlich nicht.

Ein junger Mann schraubt die Pfote eines Drachens auseinander. Das rund drei Stockwerke hohe Tier erinnert an Fuchur aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. Gleich hat er seinen ersten Ausflug auf dem Platz vor der Halle. Zu Hunderten bestaunen Schaulustige den sanften gelben Riesen. Manchen laufen Tränen über die Wangen, wenn sie der Drache aus seinen feuerroten Augen fragend anschaut. Ab und zu steigen kleine Dampfwolken aus seinen Nüstern in den Himmel. Dann trottet er ein paar Schritte weiter.

Auf Auslegern neben dem Rücken des Drachens sitzen zwei Männer. Mit Joysticks steuern sie seine sanften Bewegungen. „Dadurch schaffen wir Beziehungen zwischen ihnen und den Menschen“, erklärt Delarozière, ein ruhiger, freundlicher Mann, dem die Ideen scheinbar zufliegen. Als Kind habe er von seinem Vater, einem Schreiner, viel gelernt. Er wurde Landwirtschaftstechniker, studierte an der Kunstakademie und arbeitete als Bühnenbildner an Theatern.

Reich an Möglichkeiten

1987 schlossen die Werften für immer. „Wir haben der Stadt vorgeschlagen, den öffentlichen Raum mit unseren Figuren zu beleben“, erzählt Schöpfer Delarozière. Vor zehn Jahren eröffnete La Machine, ein gemeinnütziges Unternehmen aus Toulouse, dann eine Filiale auf der Insel. Für viele Nanteser gehören der Elefant, das „Karussell der Meereswelten“ mit seinen fantastischen Schlangen, Fischen und anderem Getier oder die seltsamen Rieseninsekten inzwischen zur Familie.

Martine verkauft die Eintrittskarten für die Galerie: Hier kann man den Schöpfern bei der Arbeit zusehen, auf den „Zweig des Reihers“ klettern und den Piloten in seinem aus Schrott zusammengeschweißten Flugzeug auf seinen Abenteuern begleiten. An ihrer Heimatstadt lobt die quirlige junge Frau den „esprit innovatif“, „den innovativen Geist“ vieler kreativer Menschen, darunter 55.000 Studenten in einer grünen Stadt, überschaubar und reich an Möglichkeiten.

Drei Fußgängerbrücken verbinden das bewaldete Inselchen mit dem „Festland“. In der Innenstadt bietet ein Spaziergang die besten Aussichten: „Le Voyage à Nantes“ nennt sich das jährliche Festival, bei dem Künstler Überraschungen auf Plätzen und an Fassaden hinterlassen. Vom Eingang einer Metzgerei grinsen Tiergesichter mit bunten langen Haaren, das klassizistische Graslin-Theater trägt üppigen Fahnenschmuck aus blauen, roten und gelben Tüchern. Auf einem der von Straßencafés gesäumten Plätze liegt ein lieferwagengroßer Igel mit hölzernen Stacheln. Er scheint sich zu drehen, wenn man ihn umkreist. Den Besuchern des sieben Hektar großen botanischen Garten „Jardin des Plantes“ grinst ein gut zwei Meter hoher Frosch entgegen.

Zwischen all den fröhlichen Installationen stellt sich Nantes dem traurigsten Kapitel seiner Geschichte: Hiesige Schiffe brachten Waffen, Schnaps, Perlen und andere Güter vom alten Kontinent nach Westafrika, wo man sie gegen die Ware Mensch eintauschte: Mehr als eine halbe Million Afrikaner verschleppten Nanteser Reeder nach Amerika. Unter Deck lagen vier Gefangene angekettet auf einem Quadratmeter. Jeder zehnte starb auf der Überfahrt. Die Schiffe brachten auf dem Rückweg Rohstoffe wie Baumwolle und Kakao aus den Kolonien.

Stadt der Sklavenhändler

Mit Handwerk und Seefahrt kam im 17. und 18. Jahrhundert Wohlstand. Kaufleute und Schiffseigner ließen sich reich verzierte Stadthäuser bauen, die den Weg von der Loire in die Altstadt säumen. Auf einem Stadtrundgang über die kopfsteingepflasterten Gassen zeigt Stadtführerin Brigitte Château einige der sonst verschlossenen Innenhöfe: Mit kunstvoll geschmiedeten Geländern dekorierte Treppenaufgänge führen in die oberen Stockwerke. Heute beherbergen sie teure Eigentumswohnungen mit Blick auf den Fluss.

2.000 Glasfenster im Boden der Loire-Promenade erinnern an die Namen der Sklavenschiffe. Ein markierter Weg mit zahlreichen Erklärungstafeln führt vom Schloss zur „Gedenkstätte für die Abschaffung der Sklaverei“ unter dem Flussufer. Durch Sehschlitze fällt fahles Tageslicht auf die unterirdischen nackten Betonwände, an die das grün-braune Wasser schlägt. Weiße Schrift auf roten Tafeln erzählt die Geschichte der afrikanischen Sklaven. Auf einer grauen rohen Wand steht das Wort „Freiheit“ in verschiedenen westafrikanischen Sprachen. Eine Schrifttafel zitiert Martin Luther Kings Rede „I have a Dream“.

Der Rückweg über die Insel bietet noch einige Überraschungen: Zu Füßen eines alten gelben Werftkrans hat ein Künstler ein Freibad angelegt: einen Strand mit Bademeister-Hochstuhl, rot-weißen Sonnenschirmen und einem Schwimmbecken.

Stadtführerin Christine erzählt von einer Begegnung: Als der Elefant von La Machine das erste Mal in der Stadt unterwegs war, sei sie mit einer Freundin losgefahren, um das Wundertier zu suchen. An einer Kreuzung fragten die beiden einen Polizisten: „Haben Sie hier irgendwo einen Elefanten gesehen?“ – „Nein“, antwortete der Schutzmann. „Nur zwei Giraffen.“ Die Kreativen von La Machine hatten auch diese beiden losgelassen.

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