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Matthew Herbert über politische Musik„Zittern macht das Leben aus“

Der britische Elektronikproduzent Matthew Herbert über die Klangeigenschaften von Schokoriegeln und Tanzen als politische Bewegung.

Matthew Herbert.
Interview von Elias Kreuzmair

taz: Herr Herbert, was man zuerst wahrnimmt auf Ihrem neuen Album „The Shakes“ ist eine Art Rattern, es könnte das Betriebsgeräusch eines riesigen Druckers sein. Ich nehme an, das ist nicht die Quelle dieses Geräuschs?

Matthew Herbert: Es ist ein Schokoladenriegel der Marke „Dairy Milk“. Ich habe einen Beat aus dem Schokoladenriegel gemacht und später vergessen, die Geschwindigkeit anzupassen, so dass der Beat doppelt so schnell läuft.

So hört es sich also an, wenn Sie einen Schokoriegel zerknurpsen?

Lacht. Nein. Ich habe ihn zerbrochen, nicht gegessen.

Sie haben nicht nur einen Track aus einem Schokoriegel gebastelt, sondern ganze Alben über die Produktion von Schweinefleisch oder über die industrielle Herstellung von Supermarktprodukten gemacht. Was fasziniert Sie so an Ernährung?

Entscheidungen, die wir beim Essen treffen, haben großen Einfluss. Wir können teilweise nicht herausfinden, wo unsere Nahrungsmittel herkommen oder unter welchen Umständen sie hergestellt wurden. Gleichzeitig wird von uns erwartet, dass wir unserem Körper dieses Zeug mit allen in ihnen enthaltenen Chemikalien und all den Körperteilen von Tieren, die wir normalerweise niemals essen würden, zuführen. Ein Sandwich wird zum Schlachtfeld zwischen uns und dem System, das es hervorgebracht hat.

Mit Ihrer Musik verhält es sich wie mit dem Essen: Man weiß nicht, welchen Ursprung die Sounds haben, die man hört.

Das stimmt.

Im Interview: Matthew Herbert

Matthew Herbert, Jahrgang 1972, ist Found-Sound-Spezialist, Veteran der elektronischen Tanzmusik und Creative Director des BBC Radiophonic Workshop in London. Er trat unter seinem Namen, aber auch unter Pseudonymen wie Doctor Rockit oder Wishmountain in Erscheinung. Teil seiner Diskografie sind unter anderem Alben, die den Lebensweg eines Schweines vertonen oder auf dem Geräusch eines tödlichen Bombeneinschlags basieren. Was erst einmal befremdlich klingt, hat seinen Grund in Herberts dezidiert politischer Herangehensweise, die Soundschnipsel nicht nur als Klang, sondern als Mittel zur Erkenntnis begreift.

Welche Eigenschaften müssen Sounds für Sie haben, um interessant zu sein?

Sie müssen aufrichtig sein. Das ist am wichtigsten. Auf „The Shakes“ sind die Sounds weniger aufrichtig als auf meinen früheren Alben, das war eine bewusste Entscheidung. Eigentlich verbiete ich es mir, Sounds zu benützen, die ich bereits verwendet habe, und nehme keine Maschinen her. Auf „The Shakes“ sind aber viele drum machines, Synthesizer und so weiter.

Ausgangspunkt für Ihr neues Album war die Spannung zwischen Ihrem glücklichen Familienleben und dem Wissen, dass in jeder Minute auf der Welt Kinder ermordet werden.

Eines meiner letzten Alben basierte auf dem Geräusch einer explodierenden Bombe. Das ist eine sehr direkte und explizite Art, über Krieg, Angst und Tod nachzudenken. Auf „The Shakes“ erzähle ich diese Geschichte noch mal anders. Wir leben in einem absolut kranken System. Ich selbst befinde mich dabei in einer ziemlich absurden Position: Ich kann mich glücklich schätzen, bewohne ein schönes Haus, verdiene Geld mit meiner Kunst, indem ich die Welt bereise und öffentlich Musik spiele. Mein Leben ist gegenläufig zu dem, was die meisten Menschen führen. Ich werde immer privilegierter und die Welt wird immer beschissener.

Was tun Sie dagegen?

Wenn man in einer privilegierten Position ist, dann ist es wichtig, diese Position zu hinterfragen. Ich bin weiß, männlich und Teil der Mittelklasse – ich habe die Verantwortung, nicht so zu tun, als wäre alles okay. Schauen Sie sich an, was in meiner Heimat Großbritannien passiert: Die Zeitungen werden immer rechter, das kapitalistische System beginnt an den Enden brüchig zu werden. Das Establishment hat Angst vor Veränderungen. Sie fangen an, mit dem Finger auf Einwanderer, Flüchtlinge und Arbeitslose zu zeigen. Das Wertesystem verschiebt sich.

Wie hilft da „The Shakes“?

Mit „The Shakes“ feiere ich, dass es okay ist, anders zu sein. Ich richte den Fokus auf Liebe, Wärme, finde Gemeinsamkeiten statt Unterschiede. Im Leben geht es um beide Bedeutungen von to shake: Du kannst Zittern, weil du aufgeregt bist, du kannst zittern, weil du Angst hast. Das macht das Leben aus.

Das lässt mich an eine Zeile auf „The Shakes“ denken: „There’s no safety in a beat“. Man kann noch so ausgelassen zu einem Beat tanzen, das schützt einen vor überhaupt nichts.

Sicherheit ist eine Illusion. Aber es gibt im Tanzen ein politisches Moment: Indem man einen gemeinsamen Raum mit anderen teilt, die vielleicht ganz anders sind als man selbst: Schwule, Heteros, Schwarze, Weiße. Es ist ein Klischee: Aber beim Tanzen zählt nicht, wo du herkommst und welche Sprache du sprichst. Allerdings hat sich dieses politische Moment nie wirklich zu einer politischen Bewegung kristallisiert. Das ist eigentlich seltsam, wenn man die Ursprünge elektronischer Tanzmusik in Chicago bedenkt, die schwarz und schwul sind.

„There’s no safety in a beat“ gilt aber umso mehr für Ihre Musik: Hörer erfahren nicht, wo die Sounds herkommen. Man könnte gerade auch zum Geräusch einer einschlagenden Granate tanzen. Warum lassen Sie dies im Unklaren?

Es ist ein Täuschungsmanöver. In gewisser Weise fast ein mieser Trick, weil ich die Leute ein bisschen verarsche. Andererseits ist es eine aufrichtige Täuschung: Die Technologie, die wir zum Musikmachen verwenden, wurde vom Militär entwickelt. Das Öl, aus dem das Vinyl ist, auf dem die Platte gepresst ist, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit aus Ländern wie Nigeria, Irak oder Saudi-Arabien. Allem, was wir tun, wohnt auf diese Weise eine gewisse Gewalttätigkeit inne. Das stelle ich mit meinen Tracks aus.

Politisch motivierte Musik ist nicht ohne die Reflexion dieses Moments der Gewalttätigkeit möglich?

Ja. Es geht darum, etwas zu durchschauen. Das ist für mich der wichtigste Moment des Politischen: Wenn man etwas versteht. Diesen Moment will ich mit meiner Musik erzeugen. Man kann Jahre lang ein Lied anhören und plötzlich denken: Was sind das eigentlich für Sounds? Und dann merkt man: Man tanzt zum Geräusch von Gewehrsalven. Diesen Moment der Erkenntnis finde ich sehr wichtig.

Die kleinen Risse in der Wahrnehmung der Welt.

Ja. Wie ein kleines Fenster, durch das plötzlich ein Gedanken in dein Leben tritt, der vorher nicht da war.

Gehört dazu auch, dass Sie tatsächlich für jeden einzelnen Track auf „The Shakes“ jeweils ein Stillleben-Video gedreht haben?

Nein, das hat einen anderen Grund: Ich hasse die Tatsache, dass wir Musik heutzutage ansehen. Immer gibt es Bilder zur Musik. Am meisten hasse ich Leute, die meine Songs mit irgendeinem Bild versehen, das nichts mit der Musik zu tun hat, und auf YouTube hochladen. Das kann alles, was ich mit einem Song intendiert habe, ruinieren. Deswegen dachte ich mir: Statt ein oder zwei aufwendige Videos mache ich einfach ein weniger aufwendiges Video zu jedem Track. Außerdem ist das ein Gegenprogramm zu den Videos von Rihanna oder Beyoncé, in denen so wahnsinnig viel passiert. Bei mir fragt man sich: Wird überhaupt irgendetwas passieren?

Letzte Frage: Lässt sich eigentlich definitiv sagen, was der entscheidende Moment einer Aufnahme ist?

Picasso sagte: Die Wahrheit steckt nicht im Pinsel, die Wahrheit meiner Bilder entsteht aus den Entscheidungen, die ich getroffen habe. Mit einem Mikrofon hat man eine unglaubliche Macht. Man kann es einem Flüchtling oder einem Minister unter die Nase halten oder einfach nach Hause gehen und sich selbst beim Gitarrespielen aufnehmen. Es sind diese kleinen Entscheidungen, die den Moment der Wahrheit ausmachen. Soll heißen: Die Frage ist nicht, wie ich aufnehme, sondern was ich aufnehme.

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2 Kommentare

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  • Was ich noch sagen wollte:

    So machen Found-Sound, elektronische Tanzmusik, Radiophonic Workshops und Creative-Director-Posten bei der BBC keinen Spaß. Zumindest mir nicht. Ich könnte sonst gleich bei der BWSE mitmachen. Die finden Zittern auch ganz geil. Vor allem wenn es andere tun. Und zur Beruhigung reden sie sich ein, dass jeder "miese[] Trick" erlaubt sein muss, weil nur "verarsch[t]e" Menschen gute Menschen sind in einer Welt, in der angeblich "allem, was wir tun, [...] eine gewisse Gewalttätigkeit inne[wohnt]". Ein Umstand, den man ganz dringend auch noch "[aus]stelle[n]" muss, weil er sonst keinem bzw. keiner auffällt. Sind ja alle taub und blind und grottendämlich. Alle außer einem selbst natürlich.

     

    Beim Tanzen zählt nicht, wo du herkommst und welche Sprache du sprichst. Dass sich "dieses politische Moment nie wirklich zu einer politischen Bewegung kristallisiert" hat, ist für Matthew Herbert offenbar ein Umstand, dem ganz dringen abgeholfen werden muss. Und zwar von einem weißen, heterosexuellen Kerl aus der Elite. Nun ja, der einer Mittelklasse halt. Die Schwarzen und die Schwulen haben ja mal wieder voll versagt bisher.

  • Da hör sich einer diesen Typen an! Das Leben wird also im Wesentlichen von genau zwei Zuständen ausgemacht: Angst und Gier. Wer nicht permanent zittert, immer abwechselnd aus positiver und negativer Erregung heraus, der ist genau genommen tot. Fragt sich nur, wo bei all der Schlotterei jener "wichtigste Moment des Politischen" Raum finden soll, den Matthew Herbert angeblich "mit einer Musik erzeugen [will]" und in dem "man etwas versteht", weil dabei jenes "kleine[] Fenster" aufgeht, "durch das plötzlich ein Gedanken in dein Leben tritt, der vorher nicht da war".

     

    Wahrscheinlich ist es wirklich besser, der Kerl beschränkt sich auf die Welt der Klänge. Das Wort scheint nicht so seins zu sein. Muss ja auch nicht. Sind schließlich die Bilder, die im Augenblick Konjunktur haben. Das neue Medium Internet ist immerhin ein sehr visuelles. Und Menschen sind de facto Augentiere. Früher mussten Leute, die nicht hören wollten, fühlen. Heute muss halt sehen, wer nicht denken will.

     

    Wenn man sie beziehungslos bebildert, kann man ganz prima tanzen zum Geräusch von Gewehrsalven. Beziehungslos bebildert (also unkommentiert) kann man allerdings auch Sachen sagen wie: "Mein Leben ist gegenläufig zu dem, was die meisten Menschen führen. Ich werde immer privilegierter und die Welt wird immer beschissener. [...] Ich bin weiß, männlich und Teil der Mittelklasse – ich habe die Verantwortung, nicht so zu tun, als wäre alles okay. [...] Mit ‚The Shakes‘ feiere ich, dass es okay ist, anders zu sein." Anders, fürchte ich, als jene Nichtprivilegierten, die das Gros ausmachen in einer immer beschissener werdenden Welt.