Prozess gegen LRA-Kämpfer: „Er war ein süßer Junge“
Vor elf Jahren massakrierte die Rebellenarmee LRA im Norden Ugandas 42 Menschen. Jetzt wartet der erste Verantwortliche auf seinen Prozess.
Ein steinernes Kreuz steht halb versteckt im hohen Gras. Kinder in schwarzen und rosa Schuluniformen laufen lachend vorbei. Der Schultag ist zu Ende, sie freuen sich, nach Hause gehen zu dürfen. Sie wissen, dass auf dem Kreuz im Gras die Namen von 42 Menschen stehen, getötet von der ugandischen Terrorgruppe Lord’s Resistance Army (LRA) am 19. Mai 2004. Aber die Schüler waren damals Kleinkinder oder noch gar nicht auf der Welt.
Ihre Eltern und Großeltern aber erinnern sich an den 19. Mai 2004 ganz genau. Der Angriff auf Lukodi war ein Tiefpunkt einer endlosen Reihe von Morden und Entführungen durch die LRA, die damals im Norden Ugandas Krieg führte.
Heute steht das Dorf wieder im Licht der Öffentlichkeit: Dominic Ongwen, die Nummer zwei der LRA, wartet in Den Haag auf seinen Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Die Anklage lautet auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Mord und Versklavung. Die Ereignisse in Lukodi sind ein Teil davon.
„Ich will, dass er für den Rest seines Lebens eingesperrt wird, damit er für seine Verbrechen büßt“, sagt Ajulina Achola leise, ihre Hand ruht dabei auf dem steinernen Kreuz. „Trotzdem möchte ich ihn einmal sehen können, diesen Mann, der mitverantwortlich ist für den Tod meiner Tochter und den Verlust meines Sohns.“ Acholas Tochter wurde schon vor dem Massaker in Lukodi von der LRA ermordet. Ihr Sohn wurde entführt, wie so viele Jungen und Mädchen damals, die Kindersoldaten werden mussten. Er kehrte nie zurück.
Rote Flammen am Horizont
Ajulina Achola war am 19. Mai 2004 gerade auf dem Weg vom Markt zurück nach Hause, als sie das Trillerpfeifen hörte, mit dem die LRA ihre Angriffe ankündigte. Sie rannte davon und versteckte sich in dichtem Gebüsch. „Es war sechs Uhr abends, und die Nacht kam schnell. Der Horizont wurde rot von den Flammen, die unsere Häuser verzehrten“, erinnert sie sich. Ajulina Achola hat Ongwen damals nicht selbst gesehen, aber andere Dorfbewohner berichteten, Ongwen habe damals eine der Gruppen von LRA-Kämpfern persönlich angeführt.
Nach fast 10 Jahren Fahndung wurde Dominic Ongwen im Januar dem Internationalen Strafgerichtshof vorgeführt. Der heute 40-Jährige wurde, so weit bekannt, 1989 von der Lord’s Resistance Army entführt und zum Dienst an der Waffe gezwungen. Als LRA-Kommandant soll er später Sklaverei, Mord und Verstümmelung befohlen haben.
Die LRA entstand aus der 1986 im Norden Ugandas gegründeten „Holy Spirit Movement“ (Bewegung des Heiligen Geistes). Nachdem diese unter Führung der Acholi-Priesterin Alice Lakwena von Präsident Musevenis Truppen geschlagen wurde, übernahm der Priester Joseph Kony die Kontrolle über die Rebellionsbewegung und machte daraus die LRA.
Die Kämpfer verübten Massaker, entführten und zwangsrekrutierten Kinder und Frauen. Damit trieben sie bis zu 2 Millionen Menschen in die Flucht.
Frieden kehrte erst ein, als 2005 Sudans Regierung Frieden mit den Rebellen Südsudans schloss und im Oktober 2005 der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl gegen den LRA-Kommandanten erließ. Der harte Kern der LRA führte jedoch weiter Krieg in der Demokratischen Republik Kongo sowie in angrenzenden Gebieten.
„Es ist gut, zu sehen, dass die Kinder froh sind und frei herumlaufen können, ohne dass sie Angst vor Kidnapping haben“, sagt die 66-Jährige und beobachtet die lärmenden Schüler. „Der Schmerz in meinem Herzen aber wird bleiben.“ Noch immer spürt Achola Frustration und Wut auf das Militär, das damals zum Schutz der Bevölkerung in Lukodi stationiert war. Das Dorf hatte sich wegen der ständigen LRA-Angriffe in ein Lager für Vertriebene verwandelt, wie viele Ortschaften im Norden Ugandas.
Die Regierung zwang die Bevölkerung förmlich in Lager, um sie angeblich besser schützen zu können. „Aber die Soldaten hatten ihre Zelte in der Mitte von Lukodi errichtet. Wir Zivilisten waren also der Schutz für das Militär. An dem Tag, als die LRA angriff, waren die Soldaten die Ersten, die flohen“, sagt Achola voll Verachtung.
Massaker und Plünderungen
2006 verlagerte die LRA ihre Massaker und Plünderungen in den Südsudan, in die Demokratische Republik Kongo und die Zentralafrikanische Republik; seither sind die Menschen im Norden Ugandas in ihre Dörfer zurückgekehrt. Neue Schulen und Krankenhäuser entstehen, doch es mangelt an Personal. Die Fernstraße nach Süden in die Hauptstadt Kampala wird ausgebessert, aber das dient vor allem den Großhändlern, die ugandische Waren nach Südsudan exportieren. Norduganda liegt dazwischen und bleibt marginalisiert, die Armut ist groß.
David Okot gibt der Regierung und der LRA gleichermaßen Schuld daran. Seine Heimat ist in der Entwicklung zurückgeblieben – wie er selbst auch. Der 36-Jährige ist eines von schätzungsweise 30.000 Kindern, die in Uganda von der LRA entführt wurden. Nach vier Jahren Gefangenenschaft gelang es ihm, zu fliehen und zu seinen Eltern in Lukodi zurückzukehren.
Okot und zwei seiner Brüder wurden 1995 entführt. Die drei Geschwister landeten in einer Gruppe, zu der auch Ongwen gehörte. Der war damals noch jung, aber schon Leutnant. Okot bat Ongwen, seine Brüder freizulassen, weil er es ungerecht fand, dass die LRA drei Söhne einer Familie für sich beanspruchte. „Er wurde wütend und schlug mich, bis ich aus Mund und Augen blutete“, erinnert sich Okot an Ongwens Reaktion. „Ein ranghoher Kommandeur verhinderte, dass er mich totprügelte. Noch tagelang urinierte ich Blut.“
Okots Brüdern gelang schließlich die Flucht, aber Okot blieb drei Jahre lang in Ongwens Kampfgruppe. „Ongwen ist ein Mörder“, sagt Okot. „Ich habe selbst gesehen, wie er Kinder totschlug, weil sie zu müde waren, um zu marschieren. Er stieg im Rang schnell auf und brauchte keine Befehle. Er mordete, weil er es liebte.“
Er ist geblieben
Seit Dominic Ongwen in Den Haag auf seinen Prozess wartet, wird oft zu seiner Verteidigung angeführt, dass er selbst Opfer und Täter zugleich gewesen sei. Auch er war einst als Kindersoldat von der LRA rekrutiert worden. Aber Okot, selbst Opfer und gezwungenermaßen zum Täter geworden, sieht Ongwen nur als Verbrecher: „Alle haben wir irgendwann die Chance bekommen, zu fliehen. Und Ongwen hatte durch seine hohe Position mehr Chancen als der Rest von uns. Aber er ist geblieben.“
In einem Dörfchen ein paar Dutzend Kilometer südlich von Lukodi bekommt man einen ganz anderen Eindruck. „Er war ein süßer Junge“, haucht Julanda Aoyo. „Ein liebes Kind.“ Aayo ist Dominic Ongwens Halbschwester. Ihr zerrissenes Kleid und ihre dürftige Hütte zeugen von Armut. Julanda Aoyo wohnt nicht weit von Ongwens Geburtsort Corom; bei ihr lebte er gerade, als die LRA ihn entführte.
„Er hatte viel geweint, als seine Mutter gestorben war“, erinnert sich die Halbschwester.“ Sein Vater brachte ihn zu mir in der Hoffnung, dass er sich bei seiner älteren Schwester beruhigen würde.“ Julanda Aoyo unterbricht sich abrupt, als sie auf einer Zeitungsseite, die jemand als Schutzumschlag für ein Buch verwendet hat, ein Foto von Ongwen sieht. „Das ist mein Bruder! Ich habe ihn lange nicht gesehen. Aber ich bin sicher, er ist es!“ Sie packt das Buch, hält den Schutzumschlag neben ihr Gesicht. „Ähneln wir uns nicht?“ fragt sie.
Julanda Aoyo war nicht zu Hause, als ihr Halbbruder entführt wurde. Sie war in die nahe Stadt Gulu gegangen, um Salz zu kaufen. „Man soll ihm seine Sünden vergeben“, sagt sie. „Schließlich wurde er gezwungen, so zu handeln. Er soll freikommen und nach Hause zurückkehren. So viele Kinder wurden entführt und bekamen schließlich Amnestie.“
Traditionelle Justiz
Auch der höchste Führer des Acholi-Volkes, Rwot David Onen Achana II., hält einen Prozess in Den Haag für keine gute Idee. Er will, dass sich Ongwen der traditionellen Justiz unterwirft, so wie Tausende andere ehemalige LRA-Kindersoldaten. Der Internationale Strafgerichtshof ist nach Meinung des Rwot ein Fremdkörper. „Unsere Form der Gerechtigkeit besteht darin, Geschichten zu erzählen. Die Täter sollen erklären, warum sie so handelten. Es ist sehr wichtig, dass sie gestehen und zugeben, was sie getan haben“, sagt der traditionelle Führer in seiner einfachen Residenz in Gulu. „Nur dann kann ein Täter um Verzeihung bitten. Und die gewährt man ihm dann auch.“
Im Norden Ugandas wird die Frage, welche Art von Justiz für Ongwen angemessen ist, heftig diskutiert: der Internationale Strafgerichtshof oder die traditionelle Acholi-Justiz, genannt Mato Oput? In Den Haag folgt auf einen Schuldspruch eine Gefängnisstrafe. Mato Oput kennt keine Haftanstalt, die Zeremonien zielen auf Versöhnung zwischen den Betroffenen.
So oder so: Der Fall reißt alte Wunden auf. Seit fast zehn Jahren hat die LRA in Uganda keine Angriffe mehr unternommen. Aber im Norden gibt es keine Familie, in der nicht jemand von ihr getötet, entführt oder zum Töten gezwungen wurde. „Nur die Zeit kann das heilen“, sagt der junge Anwalt Nicholas Opiyo. Auch er trägt die Narben einer LRA-Vergangenheit. Als die Terrorgruppe seine Schwester entführt hatte, lief Opiyo jeden Abend mit einem Stück Pappe von seinem Haus ins Zentrum von Gulu. Wie Hunderte anderer Kinder schlief er lieber an einer Bushaltestelle oder in einem Ladeneingang in der Innenstadt. Das war sicherer als zu Hause im Dorf.
Opiyo ist froh, dass Ongwen der Prozess am Strafgerichtshof gemacht wird. „Das ist der einzige Ort, wo er ein faires Gerichtsverfahren bekommt“, meint er. Außerdem hofft der Anwalt, dass dort nicht nur Ongwens Aktionen verhandelt werden, sondern auch alles andere, was in Norduganda bis 2006 geschah. Menschenrechtsgruppen beschuldigen nicht nur die LRA, sondern auch die Armee der ugandischen Regierung, Menschenrechtsverletzungen begangen und Kinder rekrutiert zu haben.
„Die Wahrheit muss ans Licht kommen“, sagt Opiyo. „Wir müssen genau wissen, was nach 1962, seit unserer Unabhängigkeit, in Uganda geschah. Erst dann ist die nationale Versöhnung möglich.“
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