SPD-Richtungsstreit: Machtkampf um Gerechtigkeit
Eine Sachfrage als Machtfrage - Beck und Müntefering kämpfen beim Streit übers Arbeitslosengeld I auch um ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit
BERLIN taz Fragen konnte die SPD-Führungsriege ihren Vizekanzler und Arbeitsminister nicht, was ihn gerade so treibt. Aber gewusst hätte sie es schon gern. Franz Müntefering jedoch weilte am Montagmorgen, als das Präsidium zu einer telefonischen Schaltkonferenz zusammentrat, auf einer Konferenz der EU-Arbeitsminister in Portugal.
So blieben die Fragen offen: Ist Müntefering nur in der Sache gegen den Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, das Arbeitslosengeld I länger als bisher zu zahlen? Oder versteht er Becks Idee auch als Angriff auf seine Autorität als Vizekanzler? Misstraut er dem Parteivorsitzenden? Glaubt er, Beck rücke die SPD nach links? Stellt Müntefering gar die Machtfrage? Und tritt er zurück, wenn er verliert?
Den Anlass für diese Fragen lieferte Müntefering selbst. Am Wochenende war er mit zwei Interviews in die politische Arena zurückgekehrt. Ein paar Tage lang hatte er geschwiegen, jetzt wiederholte er seine Kritik an Becks Forderung mit dem Arbeitslosengeld gleich zweimal. Und sowohl im Spiegel als auch in der ARD waren seine Worte hart und unmissverständlich.
"Falsch" nannte er den Vorschlag, weil er die Beschäftigungslosigkeit verlängere anstatt älteren Menschen Arbeit zu verschaffen. "Kurs halten" empfahl er seiner Partei. Er mahnte sie, "es sich nicht bequem zu machen", sondern die Agenda 2010 "mit Selbstbewusstsein" zu verteidigen. Die Idee des Parteivorsitzenden hingegen bedeute "keine Weiterentwicklung" der Schröderschen Reformpolitik, sondern sei "schon ein Schwenk".
Die Sozialdemokraten wollen weder ihren Vorsitzenden schädigen noch den Vizekanzler demontieren. Ein Machtkampf zwischen beiden würde niemandem in der Partei nützen. Vor allem würde er dem wichtigsten Anliegen der Partei schaden: Mit der Idee eines verlängerten Arbeitslosengeldes meldet Beck die SPD zurück im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Also sendete Generalsekretär Hubertus Heil nach der Präsidiumssitzung Signale der Entspannung.
"Franz Müntefering ist ein erfolgreicher Minister", sagte er. "Er ist unsere Nummer eins in der Regierung, Kurt Beck ist die Nummer eins in der Partei." Einen "Machtkampf" gebe es nicht, auch keinen "Grundsatzstreit". Müntefering sei nur "an einer Stelle sachlich anderer Meinung". Michael Naumann, Spitzenkandidat in Hamburg, brachte die sozialdemokratische Botschaft auf den Punkt: "Es geht nicht um Personalisierung, sondern um Gerechtigkeit."
Da ist viel Wahres dran. Gleichzeitig sind in der rauen Luft der Berliner Politik Sachfragen immer auch Machtfragen. Die sozialdemokratische Verknüpfung der aktuellen Sachfrage mit der aktuellen Machtfrage lautet so: Wer in der SPD bestimmt, für welches Verständnis von Gerechtigkeit die Partei kämpft? In die Auseinandersetzung zwischen dem SPD-Chef und dem Vizekanzler spielt vieles hinein. Das fängt bei den unterschiedlichen Temperamenten an - hier der genussfreudige Pfälzer Beck, dort der asketische Sauerländer Müntefering. Und es reicht bis zu ihrem unterschiedlichen Begriff von Führung. Wo Beck auf die Partei hört, macht Müntefering klare Ansagen. Aber im Kern dieses Streits geht es auch um ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit.
Beck hat in den zurückliegenden Monaten viele Betriebe besucht. Mit Müllwerkern in Berlin sprach er genauso wie mit streikenden Fahrradmonteuren in Nordhausen. Immer wieder hörte er von den gleichen Nöten und Ängsten: längere Arbeitszeiten, Rente mit 67, Lohndrückerei durch Leiharbeit, gekürztes Arbeitslosengeld. Seitdem ist er überzeugt: "Es gibt eine Gerechtigkeitslücke in dieser Republik."
Diese will er unter anderem mit der verlängerten Zahlung des Arbeitslosengeldes I für Ältere schließen. Er argumentiert dabei mit der "Lebenswirklichkeit": Einem 53-jährigen Arbeitslosen, der statt 12 künftig 18 Monate lang Arbeitslosengeld I bekommt, gibt man mehr Zeit für eine berufliche Umorientierung. Man nimmt ihm die Furcht und erhöht damit seine Kreativität. Mehr Sicherheit für ältere Arbeitnehmer, die sie durch ihre Beitragszahlungen verdient haben, führt zu größerer Leistungsfähigkeit. Das kommt der Gesellschaft zugute. Beck nennt das ein "Aufnehmen der Gefühlslage".
Für Gefühle ist Müntefering nicht zuständig. Er argumentiert rationaler, strenger. Seine größte Sorge: Gibt die SPD beim Arbeitslosengeld nach, brechen alle Dämme. Die Agenda 2010 würde hinweggefegt, gerade jetzt, da sich ihre Erfolge zeigen.
Aus Münteferings Sicht hat die Agenda 2010 dazu geführt, dass heute wieder mehr ältere Menschen arbeiten. Das kann er mit Zahlen belegen. In Arbeit investieren und nicht in Arbeitslosigkeit, lautet Münteferings Botschaft: "Wer glaubt, soziale Gerechtigkeit definiert sich im Wesentlichen durch Verteilung, der irrt." Soziale Gerechtigkeit ist für ihn auch Generationengerechtigkeit. Sein Beispiel: "Der Familienvater mit 35 Jahren und kleinen Kindern hat bei Arbeitslosigkeit doch größere Probleme als der Vater mit 60 und erwachsenen Kindern."
Dafür will er kämpfen. Einen Rücktritt ließ er am Montag durch seinen Sprecher dementieren. Müntefering stehe "ganz fest in seinen Funktionen".
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