piwik no script img

SchwerelosigkeitsforschungLiegen lernen fürs All

Am Zentrum für Knochenforschung der Charité üben sich sechs Probanden in Bettruhe für eine Studie. Die soll testen, wie sich Schwerelosigkeit auf Muskeln und Knochen auswirkt: Die nächste Marsmission kommt bestimmt.

Knochengefährende Mission? Ami-Astronaut : AP

Frank Zieps liegt und liegt und liegt. Tag und Nacht. Im Benjamin-Franklin-Klinikum, Berlin-Steglitz, siebter Stock. Durchs Fenster kann er nach unten schauen, auf den Teltow-Kanal, auf herbstfarbene Bäume. Er liegt jetzt schon seit dreißig Tagen. Zieps wird noch einmal so lange liegen und weiterhin im Liegen essen, trinken, surfen, chatten, telefonieren, duschen, fernsehen. Es kommen ständig Pfleger herein, Ärzte, Trainer. Schieben ihn hinaus, ins Nebenzimmer, in den Fahrstuhl, fahren mit ihm im Haus herum. Einmal pro Tag heben sie ihn ins blaue Duschbett, das ein bisschen aussieht wie ein längliches Babyplanschbecken. Oft vermessen sie mit irgendwelchen Apparaten seine Beine, manchmal muss er in die enge Röntgenröhre.

Eigentlich ist Zieps, der 45-jährige Versicherungsmakler, ein sportlicher Typ. Er fährt viel Fahrrad, er hat trainierte Beine. Er könnte laufen. Aber das darf er hier nicht - wegen der Marsmission.

Am Zentrum für Knochenforschung der Berliner Charité testen Wissenschaftler in einer "Bedrest"-Studie mittels Bettruhe, wie sich die Schwerelosigkeit auf menschliche Muskeln und Knochen auswirkt. Sollte in etlichen Jahren einmal ein Astronaut nach monatelangem Flug den Marsboden betreten, dann wäre es fatal, wenn er sich bei seinen ersten Schritten auf der roten Erde ein Bein brechen würde. Die Gefahr besteht: Denn die Schwerelosigkeit zehrt an Knochen und Muskeln, sie lässt sie schrumpfen. Um solche Veränderungen zu studieren, kann man nun schlecht einige Freiwillige ein paar Monate lang in einem Simulator durch die Gegend schweben lassen. Ein Mensch in Sechs-Grad-Kopftieflage allerdings hat in seiner Körpermitte denselben Venendruck wie ein Astronaut im All. Deshalb liegt Frank Zieps jetzt. Und wird täglich getestet.

Als er, wie die fünf anderen Kandidaten, vor einigen Wochen an einem Sonntagabend ins Bett ging, hatte er ein bisschen Angst, er würde am nächsten Morgen automatisch aufstehen und das Liegenbleiben vergessen. Ein anderer wollte sich sogar fesseln lassen. Aber Ruhen ist gar nicht so schwer, hat Zieps festgestellt. "Ich bin offenbar fauler, als ich gedacht hätte", sagt er.

Die Probanden, diesmal sind es zwei Studenten, ein Tauchlehrer, ein Rikscha-Fahrer, ein Vermessungstechniker und der Versicherungsmakler Zieps, sind vorher ausführlich getestet worden. "In mancherlei Hinsicht sollten sie tatsächlich Astronauten sein können", sagt Dieter Felsenberg, der die Studie leitet. Felsenberg ist ein gemütlicher Typ mit Weihnachtsmann-Bart. Er hat auch die erste Bedrest-Studie geleitet. Es gibt dafür jedes Mal hunderte Bewerber. Für jeden wird ein Psychogramm erstellt: Wie aggressiv ist er? Warum will er mitmachen? Tut er es für die Marsmission oder für die 8.000 Euro? Hält er wirklich durch?

"Bisher gab es noch keine Abbrecher", sagt der Leiter. Auch in der ersten Bedrest-Studie nicht, die vor drei Jahren zu Ende ging. "Es gibt natürlich Momente, wo die Kandidaten nervös werden, wo die Zeit dann doch ein bisschen lang wird." Familie und Freunde dürfen nicht zu Besuch kommen, nur telefonieren ist erlaubt. Einmal hatte die Frau eines Probanden eine Fehlgeburt. Er hat lange überlegt, aber er ist schließlich geblieben.

Die Situation im siebten Stock hat manchmal fast schon etwas "Big Brother"-haftes. Sechs Kandidaten, drei Zimmer, wechselnde Aufgaben, ständige Überwachung - nicht per Kamera, meist nur medizinisch. Aber trotzdem: "Wer ist denn mit seinem Partner mal 60 Tage am Stück in einem Raum?", fragt Zieps. Zu Beginn wurde gelost. Zwei von ihnen dürfen ihre Beine montags, mittwochs und freitags 10 Minuten lang trainieren, zu denen gehört Zieps. Ihre Zimmernachbarn bekommen ein bisschen weniger Training. Die anderen beiden Teilnehmer überhaupt keins. Die seien nach der Verlosung geknickt gewesen, erinnert sich Zieps. Sie müssen jetzt zusehen, wie ihre Beine immer dünner werden. Bis zu 4 Prozent ihrer Knochen werden sie verlieren.

Damit das bei Frank Zieps nicht passiert, wird er regelmäßig ins Trainingszimmer geschoben und auf eine Holzliege mit blauem Bezug gehoben. An deren Fußende befindet sich eine Metallplatte. Zieps muss seine Füße dagegen pressen, dann beginnt die Platte zu vibrieren. Zehn Minuten lang. Sein Trainer feuert ihn währenddessen an. Man glaubt das nicht, sagt Zieps, aber es ist extrem anstrengend. Und sehr wirkungsvoll. Bisher trainieren Astronauten im All jeden Tag zwei Stunden an einem gewöhnlichen Fitness-Gerät, um den Knochenschwund zu verhindern. Mit der vibrierenden Platte, die sich "Galileo Space" nennt, würden sie alle zwei Tage eineinhalb Minuten brauchen.

Die Erkenntnisse lassen sich nicht nur im Weltraum anwenden, sondern auch auf Erden. Überhaupt würden 90 Prozent der Ergebnisse terrestrische Verwendung finden, sagt Felsenberg. So ließen sich auch die 90.000 Euro rechtfertigen, die jeder Kandidat koste. Über 50 Forscher aus der ganzen Welt sind an der Studie beteiligt. Nach Kanada gehen Knochenmarksaufnahmen der Probanden, nach Italien Proben von ihren Muskeln, um die Proteine zu analysieren. Das "Galileo"-Gerät hat als Vorbild für einen vibrierenden Kipptisch gedient, erzählt Felsenberg. Dieser werde jetzt bei Querschnittsgelähmten und Kindern mit Glasknochenkrankheit eingesetzt. Menschen also, die ihre Muskeln trainieren müssen, ohne sich zu bewegen. Die Studie liefert auch Informationen darüber, wie sich Bettlägerigkeit auf den Kreislauf, auf Muskeln und Knochen auswirkt. Bettlägerigen geht es ähnlich wie Astronauten: Sie klagen über kalte Füße. "Warum, wissen wir noch nicht genau", sagt Felsenberg.

Mittags läuft er durch die Zimmer und scherzt ein bisschen mit den Probanden: "Du hast ja einen Bart, Alter." Sie duzen sich alle. Das Familienfeeling hilft gegen aufkommenden Liege-Frust. Mit manchen Leuten aus der vorherigen Bedrest-Studie hat Felsenberg immer noch viel Kontakt. Einer arbeitet für die jetzige Versuchsreihe als Therapeut. Ein anderer war dabei, als der vibrierende Muskeltrainer bei einem Parabolflug in der Schwerelosigkeit getestet wurde. Bei solchen Flügen steigt ein Flugzeug steil auf, beschreibt einen Bogen und fällt wieder. Für wenige Sekunden greift die Schwerkraft nicht. Das schwingende Galileo-Gerät darf natürlich nicht das ganze System des Raumschiffs durcheinander bringen. Also muss das Störpotenzial vorher geprüft werden.

"Man fühlt sich vielleicht noch nicht als Teil einer Marsmission", sagt Frank Zieps, "nichts mit Raumschiff oder so", aber man gehört immerhin zu einem Team. Die Stimmung in der Gruppe ist erstaunlich gut, findet auch Felsenberg. Die Probanden chatten und telefonieren viel miteinander. Am nächsten Tag werden sie alle in den Aufenthaltsraum geschoben. Da werden sie dann zusammen liegen und Bier trinken. Alkoholfreies, von der Ernährungsberaterin genehmigt. Es gibt eigentlich nur wenige Augenblicke, in denen Zieps aufstehen möchte. Wenn wieder dieser Hubschrauber draußen landet, würde er manchmal gern das Fenster schließen. Er muss dann immer die Schwester rufen.

Am Morgen des 22. November wird Frank Zieps ganz langsam wieder in der Senkrechten landen. Es ist ein entscheidender Moment für die Forschung zur Marsmission. Denn dann lässt sich in wenigen Sekunden ganz genau beobachten, was mit einem Körper geschieht, wenn er aus der Schwerelosigkeit zurückkehrt. Die ersten Schritte wird Zieps zögerlich und wankend tun. Aber mit festen Muskeln und starken Knochen. Die hat er schließlich trainiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen