Eskalierende Gewalt in Tibet: Das Dalai-Lama-Dilemma
Tibets geistliches Oberhaupt dringt mit seinem Aufruf zur Gewaltfreiheit nicht durch. Eigentlich müsste er zurücktreten.
Auffällig lange haben sich die westlichen Staaten aus den Auseinandersetzungen zwischen chinesischen Sicherheitskräften und tibetischen Demonstranten herausgehalten. Nun hat Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, den Tibetern und ihrem geistlichen Oberhaupt, dem Dalai Lama, ihre Unterstützung zugesichert.
Bei einem Treffen mit dem Dalai Lama in seinem Wohnort, dem nordindischen Dharamsala, sprach sich Pelosi gegen das drastische Vorgehen chinesischer Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten aus. "Die Welt muss erfahren, was wirklich in Tibet geschieht", sagte die Politikerin. "Wenn sich die freiheitsliebenden Menschen auf der Welt nicht gegen China und die Chinesen in Tibet aussprechen, haben wir alle moralische Autorität verloren, uns für Menschenrechte auszusprechen." Die Menschen sollten ihre Stimme gegen die "chinesische Unterdrückung" erheben.
Hunderte von Exiltibetern, die sich vor der Residenz des Dalai Lama versammelt hatten, dankten Pelosi für ihre Äußerungen mit Sprechchören.
Ihre Aussage hat Gewicht und dürfte auch an Peking nicht vorbeigehen, denn Pelosi steht in der Rangfolge der US-Regierung direkt hinter dem Vizepräsidenten und ist damit die ranghöchste Frau in den Vereinigten Staaten.
Doch trotz dieser Rückendeckung gerät der Dalai Lama angesichts der Gewaltwelle in seiner Heimat immer mehr in die Klemme. Denn seine Forderungen nach Gewaltfreiheit scheinen vor allem unter jungen Tibetern zunehmend ungehört zu verhallen. Bei Protesten von Exiltibetern in den vergangenen Tagen forderten manche der meist jungen Demonstranten gar den Tod von Hu Jintao, dem chinesischen Staatspräsidenten. Auch dass Dutzende chinesischer Flaggen in der vergangenen zwei Wochen in Flammen aufgegangen sind, zeugt von dem neuen Geist, der einen Teil der tibetischen Exilgemeinschaft erfasst zu haben scheint.
Manche Gruppierungen widersprechen den Forderungen des Dalai Lama nach einer friedlichen Lösung der Tibetfrage zunehmend offen. Tibetische Studentengruppen fordern einen Boykott der Olympischen Sommerspiele in Peking.
Eine Gruppe von etwa hundert zumeist jüngeren Tibetern, die sich "Studenten für ein freies Tibet" nennt, hat inzwischen ihren "Marsch nach Lhasa" wiederaufgenommen. Die Demonstranten waren am Montag vergangener Woche, am 49. Jahrestag der Flucht des Dalai Lama aus Tibet, von Dharamsala aus aufgebrochen, um in die tibetische Hauptstadt zu marschieren. Vier Tage später wurden sie von indischen Sicherheitskräften gestoppt, und die meisten von ihnen wurden verhaftet. Trotz der mahnenden Worte des Dalai Lama, die chinesischen Sicherheitskräfte nicht durch einen Grenzübertritt zu provozieren und die indischen Gastgeber nicht dadurch zu brüskieren, waren die Demonstranten mit genau diesem Ziel aufgebrochen.
Bei einem Teil der Exiltibeter scheint sich die Überzeugung durchgesetzt zu haben, dass die jahrzehntelangen friedlichen Bemühungen und der Dialog mit China in den vergangenen Jahren nichts am Los ihrer besetzten Heimat geändert haben. Mehr noch: Das internationale Medienecho nach den gewalttätigen Protesten und der Aufschrei der Weltöffentlichkeit über das brutale Vorgehen chinesischer Sicherheitskräfte könnten die Tibeter im Exil und in der Heimat dazu ermutigen, im Jahr der Olympischen Sommerspiele in Peking für weiteres Medienecho zu sorgen. "Die Situation in Tibet war in den vergangenen Tagen wegen der Gewalt in den Schlagzeilen", sagte B. Tsering, die Vorsitzende der Tibetischen Frauenvereinigung.
Selbst die Drohung des Dalai Lama, er werde im Fall von gewalttätigen Protesten seiner Landsleute von seinem Amt zurücktreten, scheint nur noch wenig Einfluss auf die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt zu haben. In der chinesischen Provinz Gansu griffen tibetische Reiter eine Provinzstadt an und hissten die verbotene tibetische Flagge auf dem Schulgebäude.
Auch bei den Tibetern im Exil wächst die Wut. Vergangene Woche musste die Polizei in Neu-Delhi Dutzende tibetischer Demonstranten gewaltsam daran hindern, die chinesische Botschaft zu stürmen. Die tibetischen Flüchtlinge, von denen nun immer mehr über die Grenze nach Indien strömen, heizen diese Wut noch weiter an. Sie berichten von Gewaltexzessen chinesischer Polizisten und Soldaten. Das Tibetische Zentrum für Menschenrechte und Demokratie hat Fotos in Umlauf gebracht, die Opfer der chinesischen Sicherheitskräfte zeigen: Es sind Bilder von Toten, die geschunden und bis zur Unkenntlichkeit geschlagen wurden. Manche der Leichen weisen Schusswunden auf.
Trotz allem hat der Dalai Lama seine Rolle als Führungsfigur der Tibeter auch im Exil keineswegs eingebüßt. Die häufigste Parole, die tibetische Demonstranten in Indien - Mönche, Nonnen, aber auch junge Männer - rufen, ist nach wie vor "Lang lebe der Dalai Lama!". Doch seine Botschaft von Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit scheint immer mehr zu verblassen angesichts der jahrzehntelang angestauten Wut, die sich nun offen Bahn bricht.
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