Zwangsumsiedlung für Olympia: Eispalast statt Sandstrand
Für die Winterspiele 2024 in Sotschi fehlen die Sportstätten. Deshalb werden Tausende Bewohner enteignet und umgesiedelt, Oligarchen teilen sich das Land auf.
Aprikosen, Pflaumen und Kirschen stehen bei Alexei auf dem Tisch. Sie wachsen im Garten und sind schon die zweite Ernte in diesem Jahr. Der 35-jährige Kleinunternehmer wohnt auf fruchtbarem Boden. Vor zehn Jahren kam er aus Sibirien nach Sotschi ans Schwarze Meer. "Damals hat man uns hierher gelockt", sagt er. "Wir sollten den Anteil der ethnischen Russen etwas aufstocken. Hier lebten fast nur noch "Schwarze, Kaukasier, so nennen wir sie nun mal", sagt er halb entschuldigend.
Alexeis kleines Anwesen liegt in der Imeritinski-Bucht nur einen Steinwurf vom Strand entfernt. Auf dem Grundstück der vierköpfigen Familie steht ein zweistöckiges Gartenhaus neben einem großen Rohbau, der eigentlich als Wohnsitz gedacht war. Der Bau ruht seit einem Jahr. Niemand weiß, wie es in der Bucht weitergehen wird, seit Sotschi vor einem Jahr die Austragung der Olympischen Winterspiele 2014 zugesprochen wurde.
Alexei und seine Familie sind in Adler zu Hause, einem Vorort von Sotschi. Die Stadt mit ihren 450.000 Einwohnern zieht sich auf einem schmalen Streifen hundert Kilometer an der steilen Küste des westkaukasischen Bergmassivs entlang. Erst bei Adler weicht das Gebirge ins Binnenland zurück und hinterließ eine fruchtbare Sumpf- und Schwemmlandschaft. Erst vor 100 Jahren legten orthodoxe Altgläubige die Sümpfe trocken und rotteten die Malaria aus.
Heute ist der Flecken ein subtropisches Paradies, das auch die Kommunisten zu schätzen wussten. Die Kolchose "Rossija" versorgte in der Sowjetzeit halb Russland mit Paprika, Tomaten, Kartoffeln und Mais. Boden und Klima garantierten fünf Ernten im Jahr und versahen die Kolchose mit dem damals eher anrüchigen Beinamen "Millionär". Im Kapitalismus wurde sie in den Bankrott getrieben. Heute halten die Milliardäre in der Bucht Einzug, nachdem die Planer des Olympischen Komitees die Ebene zum Baugrund für sportliche Großprojekte ernannten.
Unmittelbar am Meer sollen fünf Eispaläste und weitere Olympia-Einrichtungen entstehen. Der für das Schwarze Meer seltene Sandstrand wird einem Tiefseehafen weichen müssen. Denn über die engen, kurvenreichen Straßen lassen sich die hunderte Millionen Tonnen Baustoffe, die für die Großprojekte auch in den Bergen benötigt werden, nicht allein heranschaffen. Schon jetzt ächzt der Kurort unter einer Lkw-Lawine.
Den Ausbau des Hafens und der maritimen Eispaläste übernimmt der Eigentümer des Konzerns Basowoj Element, Oleg Deripaska. Der Milliardär hatte sich beim Zusammenklauben seines Imperiums in den 90ern wenig zimperlich gezeigt. Durch Aufkäufe und Fusionen besitzt er inzwischen 66 Prozent des weltgrößten Aluminiumkonzerns Rusal. 2007 erwarb Deripaska 30 Prozent des österreichischen Baukonzerns Strabag, der ebenfalls ins Olympiageschäft einsteigt.
In Sotschi ließ sich die Holding in der Uliza Konstituzija, der Straße der Verfassung, nieder. In der Bucht besetzten die Konzern-Sicherheitsdienste schon einmal die strategischen Punkte. Der "Park der Südfrüchte" direkt am Strand ist für Besucher jetzt geschlossen. Die letzten Bewohner wurden vor einigen Tagen gewaltsam entfernt und in ein Wohnheim gesteckt, erzählt Swetlana Berestenewa. Die junge Frau ist einer der Köpfe der Selbsthilfegruppe, die sich gegen die drohende Zwangsumsiedlung wehrt.
Allen 2.500 Anwohnern droht das gleiche Schicksal. In Swetlanas Hof auf überdachten Bänken treffen sich die Aktivisten, um zu beraten, wie es weitergehen soll. Außer Alek Li, einem umtriebigen Koreaner, sind nur ältere Frauen gekommen. Ella, Jana und Julia haben schon das Rentenalter erreicht, sie sind aber rüstige Pensionäre und zu allem entschlossen. "Erst wollte ich mich am Tor erhängen", sagt Ella, "doch den Gefallen tue ich den Mächtigen nicht." Die Tage, das wissen alle, sind gezählt. Sie beraten, ob sie nicht in einen Hungerstreik treten sollen. "Alle anderen Maßnahmen fruchten nicht", meint Julia, die früher in der Kolchose arbeitete und wie ihre Mitstreiterinnen in der Hochsaison Zimmer an Touristen vermietet. Zu günstigen Preisen, meint sie. Denn es sind die einfacheren, einkommensschwächeren Badegäste, die in der Bucht bislang absteigen. "Besonders wütend sind wir auf die Politiker, die uns im Ungewissen halten", sagt Li. Als die Olympiabewerbung eingereicht wurde, hätten die Politiker den Bewohnern der Bucht hoch und heilig versprochen, sie nicht umzusiedeln. Doch das war schnell vergessen. Auf einem der seltenen Treffen mit den Anwohnern verriet der Bürgermeister von Sotschi, was er von den Protesten hielt: "In China fragt niemand nach den Bedingungen des Abrisses, jeder geht dorthin, wohin er geschickt wird."
Der ehemalige Bürgermeister Wiktor Kolodjaschni rückte inzwischen zum Chef von "Olimpstroi" auf, der staatlichen Korporation, der der Kreml die Oberaufsicht über die Baumaßnahmen zuwies. Die Imeritaner wären sogar bereit, sich woanders am Meer niederzulassen.
Es liegt aber kein akzeptables Angebot vor, noch steht die Höhe der Entschädigungen fest. Viele fürchten sogar, ganz leer auszugehen. Das hat mit dem eigentümlichen Eigentumsrecht an Grund und Boden zu tun. Sie sind zwar Hausbesitzer, aber der Boden gehört nicht ihnen, er ist kommunales oder föderales Eigentum. Zwar ist es inzwischen rechtlich möglich, Boden zu privatisieren. In der bürokratischen Wirklichkeit zeigt sich dies jedoch alles andere als einfach. "Meine Tochter kann davon ein Lied singen", meint die 70-jährige Jana. Die Lehrerin hatte dreimal versucht, das Grundstück zu privatisieren." Jedes Mal gab es neue Auflagen, jedes Mal zahlten wir tausende Rubel Gebühren und Notarkosten, und nie hatten wir Erfolg", sagt Jana. Wenn sie dennoch eine Abfindung erhalten, wird das Geld nicht reichen, um woanders neu anzufangen. Der Quadratmeterpreis liegt bei 1.000 Dollar auf dem Markt, der Staat will aber nur einen Bruchteil dessen zahlen.
Dahinter steckt Kalkül, vermuten die Buchtbewohner. Aber nicht nur sie, auch in Sotschi und dem Austragungsort Krasnaja Poljana in den Bergen sind die Menschen aufgebracht und glauben, die Bodenspekulation sei von langer Hand geplant. Oppositionelle Lokalpolitiker und Sotschis Kommunisten gehen unterdessen noch weiter: Die Spiele seien nur ein Vorwand, ein Nebelwerfer, um sich den lukrativen Boden in Meeresnähe unter den Nagel zu reißen, meint der Kommunist Juri Dsagani.
Auch Waleri Sutschkow, der in einem unabhängigen Rat für Stadtbau in Sotschi arbeitet und seit zwanzig Jahren unermüdlich für Bürgerrechte streitet, hält die Spiele für eine gut getarnte Aktion billiger Landnahme. Er berät die Bewohner vor Gericht und hat Dutzende Fälle dokumentiert, in denen trotz gegenteiliger Faktenlage gegen die Interessen der Betroffenen entschieden wurde. Jefim Bitenew vom staatlichen Organisationskomitee 2014 streitet Ungesetzlichkeiten jedoch ab. Nur einzelne Bürger seien betroffen, das meiste Land gehöre ohnehin dem Staat. Er sagt es nicht, aber es klingt durch: Wenn die Bürger es versäumten, das Land rechtzeitig zu privatisieren, seien sie selbst schuld.
"Sotschi ist zu einer Kolonie des Gouverneurs von Krasnodar geworden", meint Sutschkow. Alexander Tkatschow habe an allen Schaltstellen seine Leute platziert, auch Olimpstroi-Chef Kolodschani stammt aus seinem Klan. Die Oligarchen und die lokalen Machthaber teilten die Region unter sich auf. Dafür spricht, dass etwa das Vierfache des benötigten Baulandes von den Planern beansprucht wird.
In den nächsten Tagen muss Sotschi nach dem Reglement des IOC den Generalplan bis 2024 vorlegen. Dann wird sich zeigen, wer noch von Enteignungen betroffen ist. Die Einwohner der Bucht wissen eigentlich schon, wohin sie umziehen sollen. In einer Anweisung von Olimpstroi vom 3. Februar 2008 ist der neue Wohnort aufgeführt. Er liegt in der Nähe der Dörfer Tschereschnja und Nischnaja Schilowka, 15 Kilometer von Adler entfernt landeinwärts in den Bergen. "Das ist unser Ende", sagen die alten Frauen. "Wir leben vom Meer, wir sind keine Gebirgler."
Auch die Bewohner von Krasnaja Poljana, wo die Skiwettbewerbe ausgetragen werden, bleiben von Umsiedlungen nicht verschont. An der einzigen Durchgangsstrasse zum fertig gestellten Grandhotel Gasproms und Rosa Hooter, dem Wintersportzentrum des Moskauer Milliardärs Wladimir Potanin reiht sich ein Plakat an das nächste. "Ich freue mich, Ihr Nachbar zu werden", wirbt ein lächelnder Investor vor einer gigantischen Bettenburg wie auf Mallorca oder in Hahnenklee-Bockswiese. Potanin ist der Mehrheitsaktionär in der weltgrößten Nickelmine "Norilsk Nickel" und hat das Wintersportprojekt schon vor der Olympianominierung in Angriff genommen. Der skibegeisterte Wladimir Putin soll ihn dazu verpflichtet haben.
Die Dorfbewohner sind über die neuen Nachbarn nicht so erfreut. Seit Putin den Ort Anfang 2000 entdeckte, hat sich das Leben verändert. Früher war nur ein Skilift in Betrieb. Stolz stellte der Besitzer damals an der Mittelstation noch ein Schild auf: "Hier speiste unser Präsident". Im vergangenen Jahr musste der Betreiber den Lift an Gasprom verkaufen. So ganz freiwillig war das nicht. In den Wäldern stehen Sicherheitsbeamte und Geheimdienstler. Überall sind Zäune und Kontrollpunkte errichtet worden. "Wir können nicht einmal mehr Beeren und Pilze sammeln", beklagt sich ein Einheimischer. Sein Haus steht an einem Straßenzug, der abgerissen werden soll. Auch er weiß nicht, wohin es ihn und seine Familie noch verschlägt. Die Stimmung ist explosiv. Die Altgläubigen in der Bucht wollen sich mit Jagdflinten wehren, wenn sie vertrieben werden. Die Frauen der Selbsthilfegruppe treten in den Hungerstreik.
Alexej geht mit der Harpune erst einmal ans Meer. Noch hat er es nur auf Fische abgesehen.
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