Menschenrechtler über Medwedjew: "Eine bescheidene Bilanz"
Der Menschenrechtler Lew Ponomarew beklagt die mangelnde Liberalisierung Russlands. Mit der Amtsübernahme von Medwedjew hat sich die Lage verschärft.
Lew Ponomarew ist einer der bekanntesten Menschenrechtler der russischen Zivilgesellschaft. Der Physiker wurde 1941 in Tomsk geboren und gehörte schon zu Sowjetzeiten zur Dissidentenbewegung. Heute leitet er die NGO "Für Menschenrechte". Kürzlich gründete er mit anderen die Sammlungsbewegung "Solidarnost". KHD
taz: Herr Ponomarew, im April wurden Sie auf offener Straße wohl aus politischen Motiven niedergeschlagen. US-Präsident Barack Obama sprach seinen russischen Amtskollegen beim ersten Treffen darauf an. Hat sich jemand von der russischen Führung bei Ihnen danach gemeldet?
Lew Ponomarew: Nein. Das ist wohl unter ihrer Würde.
Aber mit Präsident Dmitri Medwedjew sitzt seit einem Jahr ein neuer Mann im Kreml. Mit der Amtsübergabe Wladimir Putins verband sich auch die Hoffnung auf eine neue Tauwetterperiode. War das unbegründet?
Ich möchte nicht allzu radikal sein, die Bilanz fällt jedoch bescheiden aus: Unter Medwedjew hat sich nichts zum Besseren gewendet. Die optimistische Stimmung von damals herrscht zwar weiter vor, und das ist an sich schon von Nutzen. Aber Medwedjew wollte gegen den "Rechtsnihilismus" bei uns zu Felde ziehen, doch Maßnahmen zur Stärkung der Rechtssicherheit unternahm er bislang nicht. Trotz allem wächst die Zahl der Menschen, die mit ihm Hoffnungen auf eine Lockerung der verkrusteten Verhältnisse verbinden. Obwohl sich gleichzeitig auch Enttäuschung breitmacht.
Wovon sind die Bürger besonders enttäuscht?
Statt das Recht zu stärken, leitete der Präsident Schritte ein, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. Den Geschworenengerichten wurde die Möglichkeit genommen, Beweismaterialien einzusehen, die mit Untersuchungen des Geheimdienstes FSB zu tun haben. Und das sind meist alles Fälle, die die öffentliche Ordnung betreffen. Ausschreitungen der Sicherheitsorgane bei Demonstrationen fallen auch darunter. Das ist ein schwerwiegender Rückschritt. Den Ukas unterzeichnete der Präsident. Was als Reform des Gerichtswesens dargestellt wird, ist eigentlich eine Gegenreform.
Machen Sie daran den anhaltenden Einfluss der Sicherheitsstrukturen fest?
Die Dominanz der Sicherheitsstrukturen ist ungebrochen. Negative Entwicklungen, die mit Expräsident Putin einsetzten, wurden nicht etwa gestoppt oder wenigstens abgebremst. Selbst die Gewissensfreiheit gerät ins Visier der Staatsmacht. So wurde unter der Kuratel des Justizministeriums ein Komitee zur Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen gegründet. Vorsitzender ist ein Lobbyist des Moskauer Patriarchats der orthodoxen Kirche, die sich offen gegen Gewissensfreiheit wendet und auch die allgemeinen Menschenrechte für einen zerstörerischen Westimport hält.
Im April lud der Präsident Vertreter oppositioneller NGOs in den Kreml ein und sprach davon, dass das gängige Feindbild der NGOs korrigiert werden müsse. Bedeutet das nicht, der Manövrierraum könnte breiter werden?
Medwedjew regte an, die Gesetzgebung zur Zivilgesellschaft zu ändern. Putin engte deren Arbeitsbedingungen erheblich ein, vor allem die finanzielle Seite wurde verschärft. Das ist auch ein Problem, aber nicht das schlimmste. Hätte der Präsident die Gründung eines Fonds unter Leitung unabhängiger Instanzen vorgeschlagen, der zivilgesellschaftliche Organisationen nach eigenem Gutdünken unterstützt, dann wäre dies etwas wirklich Neues gewesen. So weit wollte er aber wieder auch nicht gehen.
Sind der versöhnlichere Umgang und der liberalere Zungenschlag Medwedjews nur Maskerade?
Im Russischen nennen wir das pokasucha. Nur zum Schein, mal sehen, wer darauf hereinfällt. Aktive Vertreter der Zivilgesellschaft werden verfolgt, und es sind inzwischen Tausende. Das begann mit Putin. Medwedjew führt es nicht nur fort, die Tendenz scheint sich noch zu verstärken. Alle oppositionellen Parteien und Bewegungen sind davon betroffen, aber besonders hart rangenommen werden linke Vereinigungen und antifaschistische Gruppen. Kurzum: Wir sehen kein Signal, dass die Bespitzelung über kurz oder lang aufhören könnte. Auch im Prozess gegen den Exoligarchen Michail Chodorkowski hält der Präsident an der Putin-Linie fest. Er stellt das schändliche Verfahren nicht ein. Die Abhängigkeit unserer Gerichte von der Politik ist kein Geheimnis.
Der Unterschied in Stil und Form zwischen Präsident Medwedjew und Premier Putin ist augenfällig. Hier der verständige, erklärungsfreudige, nüchterne Medwedjew, dort ein aggressiver, bärbeißiger Putin. Ist die Arbeitsteilung gezielt?
Anfangs vermuteten wir, die Doppelführung werde nicht lange durchhalten. Das Tandem handelt aber geschlossen, zumindest erkenne ich keine nennenswerten Risse. Es sieht nach bewusster Arbeitsteilung aus, die sich auf Äußerlichkeiten beschränkt. Kollegen aus der Menschenrechtsbewegung haben dem Kreml Dutzende vernünftige Vorschläge eingereicht. Die Papiere kommen kommentarlos zurück, als hätten sie den Präsidenten nie erreicht.
Medwedjew gab der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta ein Interview. Ein Novum in Putins Russland.
Die Sache als solche ist positiv. Nur sagte er in dem Gespräch nichts Besonderes und wich klaren Antworten aus. Selbstverständlich ist Medwedjew im Auftreten ein angenehmerer Zeitgenosse als ein wütende Grimassen ziehender Putin. Bedauerlich ist nur: Es bleibt bei Worten. Wenn Medwedjew meint, "Freiheit ist besser als Unfreiheit", so klingt das freundlicher als Putins Drohung, Gegner "auf dem Klosett zu vernichten". Die Rhetorik stimmt, aber Verfolgung und totale Überwachung von Oppositionellen gehen weiter. Fast alle Demonstrationen werden verboten. Außenpolitisch tritt der Präsident moderater auf, aber er unterscheidet sich in der Stoßrichtung nicht von seinem Vorgänger.
Sie haben vor Kurzem die oppositionelle Bewegung Solidarnost mitgegründet. Machen Menschenrechtler jetzt Politik?
Die liberalen Politiker sind von der politischen Bühne verschwunden. Menschenrechtler müssen sich jetzt in die Politik einmischen, wenn nicht auch noch die Reste einer Gegenöffentlichkeit wegbrechen sollen.
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