Leben mit Hartz IV: Angst vor der Schadenfreude
Den Hartz-IV-Betroffenen macht nicht allein das wenige Geld zu schaffen. Eine arbeitslose Akademikerin erzählt, warum sie ihre Freunde belügt und ihre Brüder beneidet.
In der fünften Klasse musste ich einen Aufsatz darüber schreiben, wie ich mir meine Zukunft vorstelle. Dabei dachte ich an diese erfolgreiche Frau aus der Kaffee-Werbung. Sie war jung, hübsch und agil. Hatte einen tollen Job und dennoch Zeit für Freunde und Freizeit. Genau so sah ich mich mit 25 Jahren. Nämlich in einer großen Wohnung in einer Großstadt mit meinem Traumjob - damals war das noch Anwältin.
Heute bin ich 27. Und ich möchte Journalistin werden. Genau, werden. Ein Job scheint im Moment weit entfernt - ich lebe von Hartz IV. Dabei dachte ich, alles richtig gemacht zu haben. Jahrgangsbeste in der Grundschule, glänzendes Abi, Studium, Ausland, Praktika, Magister Artium. Danach war ich 26. Weil ich mein Studium mit Bafög und Nebenjobs finanzierte, freute ich mich endlich auf ein weitaus besser bezahltes Volontariat als Einstieg in den Journalismus. Die Ernüchterung kam schnell. In meinem Briefkasten landeten nur Absagen. Begründung: zu wenig Erfahrung!
Vielleicht bin ich naiv, aber wird nicht überall gepriesen, Akademiker hätten die besten Chancen im Beruf? Hieß es nicht immer: "Kind, studier, dass was Gscheits aus dir wird"? Hab ich doch! Jetzt bin ich Dauerpraktikantin. Und zwar seit mehr als einem Jahr. Die Praktika sind alle unbezahlt. Meine Mutter kann mich finanziell nicht unterstützen, meine Ersparnisse sind längst aufgebraucht. Darum blieb mir der Gang zur Arbeitsagentur nicht erspart.
Ich schob es zwei Monate vor mir her. Aus Scham. Bloß kein Hartz IV. Das sind alles Staatsschmarotzer, die in Jogginghosen auf dem Sofa hocken und den ganzen Tag fernsehglotzen, sagten stets meine Kommilitonen. "Nicht nur", grummelte ich immer verärgert. Meine Mutter hatte schließlich selbst Jahre lang davon gelebt. Und sie gehört nicht zur Gattung fauler Couchpotato.
Beim Gedanken an die Arbeitsagentur fühlte ich mich elend. Letztendlich zwang mich meine Mutter hinzugehen. Und die anstehende Miete. Sechs Monate waren seit meinem Abschluss vergangen. Am Abend davor weinte ich. Ich schämte mich vor mir selbst. Fühlte mich als Verlierer, weil ich trotz Studium und Praktika noch keine bezahlte Stelle gefunden hatte. Widerwillig und mit flauem Gefühl im Magen quälte ich mich hin. Zur gleichen Zeit sonnte sich mein bester Freund in der Türkei, meine Freundin plante eine Rundreise durch Asien. Ich hasste beide dafür.
Die Beraterin in der Arbeitsagentur hätte mich am liebsten wieder nach Hause geschickt. "Was wollen Sie denn hier?", fragte sie mich vorwurfsvoll.
"Arbeitslosengeld II beantragen", entgegnete ich.
"Warum?" So eine dumme Frage.
"Weil ich meine Miete nicht mehr bezahlen kann", antwortete ich genervt.
"Dann gehen Sie doch zu Ihren Eltern."
"Wenn die mich unterstützen könnten, wäre ich wohl kaum hier."
"Füllen Sie diese Formulare aus, dann sehen wir, ob Sie überhaupt Anspruch auf Sozialhilfe haben", sagte sie schnippisch.
"Sozialhilfe?" Ich fühlte mich veräppelt.
Drei Wochen später war der Antrag genehmigt. Das Geld für die Miete hatte ich mir von meinem Freund geliehen. Denn das Arbeitslosengeld ließ noch eine ganze Weile auf sich warten. Zuvor musste ich nämlich noch auf drei Informationsveranstaltungen mit Anwesenheitspflicht, Ausweiskontrolle und Stempel. Dort habe ich übrigens gelernt, was die Sachbearbeiter der Arge offenbar unter rücksichtsvollem Umgang verstehen. Sie reden sehr langsam und übertrieben deutlich. Als seien die Anwesenden debil.
Danach musste ich noch zu meinen persönlichen Sachbearbeitern. Mit dem Jobvermittler hatte ich Glück. Statt mich sofort in einen 1-Euro-Job zu drängen, gewährte er mir bislang meine Praktika. Er weiß, dass ich unbedingt Journalistin werden will und dazu gewisse Erfahrungen brauche. Er weiß auch, dass es länger dauern kann, eine Volontärsstelle zu bekommen. Aber vor allem weiß er auch, dass mir das Wichtigste fehlt: Beziehungen. Und darum hat er Nachsicht.
Weniger nachsichtig bin ich mit mir. Je länger ich von Hartz IV lebe, je mehr unbezahlte Praktika ich mache, desto unzufriedener und frustrierter werde ich. Ich setze mich selbst unter Druck. Bei jeder Hospitanz verlange ich von mir, perfekt zu schreiben, will überzeugen und glänzen. Mittlerweile fühle ich mich müde und erschöpft. Dabei habe ich noch nicht einmal mein Minimalziel erreicht: Ein Volontariat ist nicht in Sicht, die Praktika nehmen kein Ende. Für Urlaub habe ich kein Geld. Und wenn, müsste ihn mir die Arge genehmigen.
Wenn ich mir keine weiteren Hospitanzen oder Praktika besorge, drohen mir Kürzungen oder der gefürchtete 1-Euro-Job. Also mache ich weiter.
Oft liege ich abends heulend im Bett. Frage mich, warum ich studiert habe. Wo die Belohnung für all die Mühe und für den ganzen Fleiß bleibt. Denke neidisch an meine beiden älteren Brüder, die trotz Hauptschulabschluss als Zollbeamter und Mediengestalter im Monat 3.000 Euro aufwärts verdienen. Missgönne meinem jüngeren Bruder die sichere Festanstellung als Lehrer für Geschichte und Kunst.
Doch meine Brüder und meine Mutter haben kein Verständnis für meine Unzufriedenheit. "Du hast die besten Voraussetzungen", meinen sie. "Du hast doch studiert und wirst einen ganz tollen Job finden." Meine Freunde sagen das auch. Die halten mich nämlich für perfekt. Denken, dass ich die ganzen Praktika mache, um Erfahrungen zu sammeln. Sie finden das mutig. Bewundern mich dafür. Sie haben zwar auch noch keine feste Arbeit, leben aber vom Geld ihrer reichen Eltern. Der Sonntagsbrunch ist ein Muss, ein iPhone und die neuesten Klamotten auch.
Und ich? Ich verschweige Hartz IV. Ich behaupte, von meinem Gesparten zu leben. Und belüge meine Freunde. Denn Hartz IV belächeln sie. Auf Mitleid kann ich verzichten. Vor Schadenfreude habe ich Angst.
Also lächle ich mit und bedauere mit ihnen die Flaschensammler. Das Lächeln ist anstrengend. Ich kaschiere damit meine Stimmungsschwankungen und den chronischen Geldmangel. Ich gebe vor, glücklich zu sein. Rede die Dinge schön. Beim Geld ist das Versteckspiel schwieriger.
Schließlich wollen meine Freunde auch ausgehen. Ich behaupte dann oft, ich hätte keine Zeit. Und wenn ich doch dabei bin, nippe ich den ganzen Abend an einem Tafelwasser. Zum Glück bin ich überzeugte Antialkoholikerin. Das dulden sie. Meistens höre ich mir ihre Probleme an oder bewundere ihren 50-Euro-Haarschnitt. Meinen Pony schneide ich selbst.
Manchmal bin ich stolz auf mich. Darauf, dass ich das Mini-Einkommen geschickt einteile. Das Sparen habe ich perfektioniert. Ich kaufe Kleider nur im Schlussverkauf und hole das meiste Essen bei der Tafel. Im Supermarkt gehe ich zur reduzierten Ware, fische aus dem Kühlregal die abgelaufenen Produkte. Dafür ernte ich oft missbilligende Blicke. Mir egal. Ich kann noch verächtlicher zurückschauen.
Die Zahnpastatube schneide ich auf, bevor sie im Müll landet - neben dem noch original verpackten Schinken oder Tofu, den meine Mitbewohner oft wegwerfen. Das tut weh.
Kino ist tabu. Die Bücherei nicht. Denn dort gibt es die Filme und Bücher fast gratis. Ich verzichte schon lange. Das nervt. Geiz ist nicht geil. Muss aber sein. Vielleicht zahlt sich das irgendwann aus. Hoffentlich schon bald. Denn ich will endlich etwas Ruhe. Zum Entspannen lege ich mich auf die Couch. In bequemen Hosen, mit einem Buch. Oder vor die Glotze. Und bewundere die tollen Frauen im Fernsehen.
* Die Autorin macht derzeit ein Praktikum bei der taz, es ist ihr sechstes nacheinander. Sie möchte anonym bleiben. Potenzielle Arbeitgeber sollen nicht wissen, dass sie Hartz IV bekommt.
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