Schulreform: Begrenzte Experimentierfreude
Die neue Oberschulart Sekundarschule gefällt durchaus auch Eltern leistungsstarker Kinder. Es fehlt aber an Vertrauen in die unerprobte Schulform. Das zieht viele doch an die Gymnasien.
Im hellen Klassenraum im dritten Stock der Ferdinand-Freiligrath-Oberschule an der Kreuzberger Bergmannstraße sitzen Mädchen und Jungen verschiedenen Alters zusammen. Emre, 12, und Ahmad, 16, blättern gemeinsam eine Tageszeitung durch. Die SchülerInnen sollen sich ein Bild davon machen, wie eine Zeitung aufgebaut ist. Der Themenschwerpunkt ihrer altersgemischten Lerngruppe heißt "Gesellschaft und Medien".
"Arena" heißen diese jahrgangsübergreifenden Lerngruppen in der Freiligrath-Oberschule. Neben zweien für Gesellschaft und Medien gibt es solche für Kunst und Bildhauerei, für Musik, Theater, Natur und Technik, Sport oder Wirtschaft und Produktion. Die Arenen sind an der Schule kein Zusatzprojekt. Sie sind Teil des Unterrichts: 18 Stunden pro Woche haben die SchülerInnen Fachunterricht im jahrgangsgetrennten Klassenverband. Zwölf Stunden gehören der Arena: Dort wenden sie ihre Kenntnisse an und lernen dazu. Dafür holt sich die Schule Experten von draußen: "Dritte" werden die hier schlicht genannt - Journalisten, Künstler, Handwerker und Sportler, die ihr Können und Wissen in die Schule bringen.
Am Montag beginnt die zweiwöchige Anmeldefrist für den Wechsel der jetzigen Sechstklässler an die Oberschulen. Davon gibt es ab dem nächsten Schuljahr zwei: das Gymnasium und die neue Sekundarschule. Dort gehen Haupt-, Real- und Gesamtschulen in einer integrativen Schulform auf.
Schüler verschiedener Leistungsniveaus sollen gemeinsam lernen und mit individueller Förderung den bestmöglichen Schulabschluss erreichen. Auch Abitur können SekundarschülerInnen machen: Nach 13 statt wie künftig an den Gymnasien nach 12 Schuljahren. Dafür haben die neuen Oberschulen weniger Unterricht, kleinere Klassen und Ganztagsbetrieb.
An welcher Schulart sie ihr Kind anmelden, bleibt Elternwahl.
In Ahmads und Emres Arena werden 20 Jugendliche von vier Erwachsenen betreut. Zwei sind Lehrkräfte, die beiden anderen Medienschaffende. Bei der jahrgangsübergreifenden Themenarbeit der SchülerInnen zeigen sich ihre besonderen Begabungen: Emre, Siebtklässler, ist etwa in Rechtschreibung besser als der ältere Ahmad. Er kann diese Begabung in die Arbeit der Gruppe einbringen: Schon allein, indem andere von ihm lernen. Neuntklässler Ahmad hat andere Kompetenzen. Mit anderen älteren SchülerInnen hat er Betriebe in der Nähe der Schule besucht, um Informationen zu sammeln, welche Ausbildungsmöglichkeiten diese anbieten.
Denn neben der Beschäftigung mit dem Thema Zeitung sitzt die Gruppe gerade an einem anderen Projekt: Die Jugendlichen bauen ein Webportal auf, das diese Informationen allen zugänglich machen soll. Zugleich entwerfen sie Plakate, die die Betriebe und die dort vertretenen Berufe vorstellen. Mit der Ausstellung in der Schule wollen sie andere SchülerInnen auf ihr Webportal und die örtlichen Lehrbetriebe hinweisen.
Hildburg Kagerer, Leiterin der Freiligrathschule, hat vor 20 Jahren den Grundstein zu dieser besonderen Schulform gelegt. Kagerer, Lehrerin und Psychoanalytikerin, war damals als Lehrkraft und Schulpsychologin an der Kreuzberger Schule tätig. "Ich hatte Kinder vor mir, die sich nichts mehr zutrauten, mit denen nichts mehr ging", erinnert sie sich. Ihre Erkenntnis: Schule muss sich der heterogenen Einwanderungsgesellschaft öffnen und stellen. Erste Projekte mit türkischstämmigen Künstlern waren erfolgreich. Kagerer übernahm die Schulleitung und setzte die Arenen als Teil des Stundenplans durch. Heute ist die Freiligrathschule ein international beachtetes Modell.
Ein Modell, das mit der Schulreform auch das Interesse von Eltern weckt, die in der bisherigen Haupt- und Realschule keine Option für ihre Kinder sahen. Nun wird die Schule mit der nahen Borsig-Realschule zur Sekundarschule fusionieren. Der Lehrplan wird ausgebaut, um den SchülerInnen nach der zehnten Klasse den Weg zum Abitur zu öffnen.
Ute Nenneckes Tochter, Sechstklässlerin an der Kreuzberger Clara-Grunwald-Grundschule, hat eine Gymnasialempfehlung. Mit anderen Eltern der Klasse hat die Mutter sich bei der Suche nach der richtigen Oberschule auch die Freiligrathschule angeschaut. Nennecke gefällt dort vor allem das jahrgangsübergreifende und selbstständige Lernen: "Das setzt das Montessori-Prinzip unserer Grundschule fort." Dass die SchülerInnen in den Arenen "ihre Stärken entdecken können und nicht immer nur was mit dem Kopf machen", tue allen Kindern gut, meint Nennecke: "Auch gymnasial empfohlenen."
Auch Barbara Fischer, deren Sohn die sechste Klasse der Kreuzberger Hunsrückgrundschule besucht, findet das Konzept der Schule toll: "Die Freiligrath verfügt über mehr Erfahrung im Umgang mit alters- und leistungsgemischten Klassen als jede andere Schule in Berlin." Unter dem Motto "Klasse bleiben" hatten die Eltern der Klasse ihres Sohns die Idee entworfen, die Kinder gemeinsam an der künftigen Sekundarschule anzumelden. Doch trotz der Begeisterung für das Konzept sprangen immer mehr Eltern ab.
Vor allem von denen mit gymnasial empfohlenen Kindern seien kaum welche übrig, sagt Karsten de Ponte. Er gehört zu den wenigen, die entschlossen sind, an der Freiligrath anzumelden: "Uns sind die Bildungsstandards der anderen nicht so wichtig", sagt er. Sein Sohn ist lernbehindert, das Integrationskind in der jetzigen Grundschulklasse: Da sei das Arenenkonzept genau richtig, sagt der Vater. Fünf andere Kinder der Grundschulklasse, vermutet er, werden noch mitgehen an die Freiligrathschule.
Auch Barbara Fischer gehört zu denen, die es sich anders überlegt haben. Sie hat Zweifel, ob das Konzept der Schule die Reform übersteht. Durch die Fusion kämen neue Lehrkräfte dazu, die das Konzept "nicht kennen und vielleicht nicht befürworten: Man kann derzeit nicht sagen, wie die Schule in Zukunft aussehen wird." Sie wird ihren Sohn an einem Gymnasium anmelden: "Ich möchte eine Lernatmosphäre, die sicherstellt, dass er motiviert lernt", so Fischer.
Auch Ute Nennecke schwankt: "Ich weiß, dass Gymnasien nicht die besseren Schulen sind", sagt sie. "Ob aber die Sekundarschulen gute Schulen werden, wissen wir noch nicht." Sie wirke gern an neuen Projekten mit, sagt Nennecke: "Aber meine Experimentierfreude hat Grenzen."
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