: Eine Wonne der Gewöhnlichkeit
Vor 20 Jahren saßen sie in einem Büro: Angela Merkel und Michael Schindhelm, zwei junge Naturwissenschaftler in der DDR. Er ist heute Opernintendant. Sie soll zur ersten Bundeskanzlerin Deutschlands gewählt werden. Ein Nachruf auf eine Frau, die es nicht mehr gibt
VON MICHAEL SCHINDHELM
Winter 1984. Abteilung Theoretische Chemie des Zentralinstituts für physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Ich stellte mich als künftiger Kollege vor und präsentierte meine Diplomarbeit. Ich hatte elf seriöse Herren der Wissenschaften vor mir und eine junge Dame, die vermutlich auch eine Dame der Wissenschaften war, vor allem aber eine junge Dame: Pagenschnitt, Sommersprossen, breites Lächeln, T-Shirt und Jeans, für damalige Verhältnisse unauffällig unakademisch.
Kopulierende Kaninchen
Ein Jahr später bezog ich meinen Schreibtisch in einer Baracke am Rande des Institutscampus, zu der Trampelpfade führten und in deren Umgebung Stadtkaninchen im hohen Gras kopulierten. Der Standort unserer Abteilung atmete die unberührte Idyllik im sozialistischen Wissenschaftsbetrieb. Sie saß nebenan, wenn sie da war. Am Anfang war sie noch öfter da. Ihre Beobachtung zu meinem Auftritt ein Jahr zuvor: Ich hätte den Eindruck gemacht, Gedichte zu schreiben und für das Fach eines Violinspielers geeignet zu sein. Das lag wahrscheinlich an meinem Mangel an Einsatz.
Es gab viele Gründe, warum ich damals nicht auf den Gedanken kam, in Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin Deutschlands zu erkennen. Unter anderem, weil unweit von unserer Baracke die Mauer verlief. Vor allem war die Merkel einfach eine junge Dame. Eine Wonne der Gewöhnlichkeit, so hätte man die Atmosphäre in unserer Abteilung nennen können. Und die Beziehung zwischen Merkel und mir. Die Kaffeepausen gehörten zur glücklichsten und aufschlussreichsten Beschäftigung in den zweieinhalb Jahren, die ich es an der Akademie aushielt. Die Konzerte, das Kino, bulgarischer Cabernet, Wagner und Gorbatschow und die absurde DDR, an deren Ende doch nicht zu denken war.
Ungesättigte Kohlenwasserstoffe und was mit ihnen auf mikroskopischer Ebene passiert, wenn man sie mit Wasserstoffkernen oder Protonen beschießt, jene Dinge also, die zu unserer alimentierten Tagesbeschäftigung gehörten, kamen in diesen Gesprächen eigentlich nicht vor. Das lag wahrscheinlich vor allem an meinem Mangel an Einsatz. Man war so gut befreundet, wie es möglich war für zwei Kollegen, die derselben Generation angehörten und die über ein paar sie interessierende Dinge ähnlich dachten.
Freundschaft ist in der Regel ein Akt der Vereinnahmung. Man macht sich am Anfang von jemandem ein Bild, und an diesem Bild wird die Person der späteren Jahre gemessen. Verliert man sich zeitweise aus den Augen, erweist sich jede Wiederbegegnung als eine Art Respektlosigkeit. Man akzeptiert nicht die Schrammen des Lebens, man unterwirft sich nicht der Autorität der Zeit.
Die einzige stabile Brücke zwischen dem Bild von damals und dem Menschen von heute entsteht aus Ironie. Es ist wie bei einem Versteckspiel: Hinter den Altersspuren vermutet und sucht man denjenigen, der einmal ein anderer war. Angela Merkel bleibt auf vertrackte Weise die Merkel der früheren Jahre. Ich sehe sie von Plakaten lächeln, höre die Stimme, sehe die Handschrift, und das alles sind Indizien dafür, dass es die Angela von damals noch gibt.
Ich käme nicht ohne Fälschungen aus, sollte ich die kommende Bundeskanzlerin mit der Physikaspirantin von damals zusammenbringen. Die Ableitung der heutigen Merkel aus der ehemaligen funktioniert nicht. Überall bleiben Löcher und Leerstellen. In der Physik nennt man das Singularität.
Wahrscheinlich ist vor allem eine dieser Singularitäten daran schuld, dass sich Angela Merkel nicht aus ihrer Biografie erklären lässt: der Fall des Eisernen Vorhangs.
Der 9. November 1989 ist ein überpersönliches Datum. Es markiert ein soziales Fegefeuer, an dem keiner, der im Osten zu Hause war, vorbeikonnte. Für viele der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen schlug eine zweite Stunde null. Im Gegensatz zu unseren Eltern hatten wir noch einmal die Chance und sahen auch die existenzielle Notwendigkeit, unser Leben in die Hand zu nehmen und ihm eine neue Perspektive zu geben. Merkels Karriere muss von der Erkenntnis ausgelöst worden sein, es sei in einem für alle historisch verbindlichen Moment an der Zeit gewesen, sich noch einmal neu zu erfinden.
Diese für alle verbindliche Erfahrung kennen die Westdeutschen unserer Generation nicht. So trennt uns West- und Ostdeutsche mittleren Alters, was uns vereint: Durch unsere Jugend verläuft die Mauer. Wir sind der Nachwuchs des Kalten Krieges. Wir haben ihn nicht angezettelt, wir kennen aber seine Zumutungen. Wer älter ist, hat noch das gemeinsame Nachkriegsdeutschland erlebt, unsere Kinder wachsen in einer vereinten Bundesrepublik auf.
Angela Merkel mag Glück gehabt haben in ihrem politischen Leben, aber der Erfolg ist ihr nie zugefallen. Jeder Sieg war auch eine Tortur, jede Erhöhung angefochten. Sie nimmt jetzt den letzten Schritt an die Macht, weil sie die Spielregeln der gegenwärtigen bundesdeutschen Politik offenbar besser beherrscht als zum Beispiel ihre Alterskollegen Merz und Koch, die diese Regeln von der Pike der Jungen Union und der Konrad-Adenauer-Stiftung auf gelernt haben.
Vielleicht hat ihr die naturwissenschaftliche Weltwahrnehmung dabei geholfen, die Dinge pragmatisch zu sehen, halbe Siege auch als Siege zu werten und sich auf Kompromisse und Koalitionen einzulassen, die den Lehrern und Schülern der reinen westdeutschen Politiklehre aus ideologischen Gründen wehtun.
Sich selbst überwunden
In erster Linie aber ist es Härte gegen sich selbst. Physikerin, Intellektuelle, Ostdeutsche: Angela Merkel ist eine Deutsche neuen Typus. Sie ist ein Hybrid aus Ost und West, Repräsentanz und Subversion, wie es die politische Klasse im Land bisher nicht kennt. Alle Zuordnungsversuche sind gescheitert, denn sie sind von lieb gewonnenen Klischees ausgegangen. Auf Schubladen hat die neue Kanzlerin mit Selbstüberwindung reagiert.
Das Ich von Angela Merkel ist zwar immer dasselbe, aber es treibt sich unermüdlich an, ein anderes zu werden. Diese Merkel-Mimesis war bislang schneller als Fernsehkameras und Leitartikel. Wir werden sie jetzt wieder beim Übergang von der Kandidatin zur Kanzlerin beobachten können.
Mit Schröder und Fischer tritt nicht einfach eine rot-grüne Administration samt ihrem radikalreformerischen Ansatz in den Ruhestand. Die Abdankung des Kanzlers ist eine symbolische Geste für die Altersresignation einer Generation. Am Ende des Marsches durch die Institutionen steht der Achtundsechziger erschöpft vor dem Spiegel der Selbstoffenbarung. Es ist vorbei.
Nachdem sie in jungen Jahren laut, manchmal gerecht und manchmal selbstgerecht, über die Väter Gericht gehalten haben, sind die Faschistenkinder inzwischen selbst Väter, ja Großväter geworden. Ihre Idee von sozialer Gerechtigkeit und einem postnationalen Deutschland hat sich im Gespinst aus Bürokratismus und wirtschaftlichem Phlegma, Schulden und einem schier unlösbaren Identitätsproblem zwischen Ost und West in blasse Schatten aufgelöst.
Aus diesem Gespinst tritt sie jetzt hervor. Die Vertreterin einer neuen Generation. Einer Generation, die noch keine Eigenschaften hat. Höchstens ein paar Persönlichkeiten, die bisher eher im konservativen oder liberalen Lager zu Hause waren. Inzwischen hat ja auch die SPD einen von den Neuen gewählt.
Man weiß noch nicht, was man von ihnen zu halten hat. Im schlimmsten Fall verwalten sie für eine Weile die Misere und treten damit den Beweis an, dass sie nur ein Dazwischen sind, nette, harmlose Leute, die bald das Ruder wieder zurückgeben, vielleicht an die Neunundachtziger. Im besten Fall sind sie Selbstüberwinder. Wie Angela Merkel. Und helfen einem depressiven Deutschland, sich selbst zu überwinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen