Kriminologe zu Sicherungsverwahrung: "Die Gefahr wird extrem überschätzt"
Der Kriminologe Thomas Feltes erklärt, dass neun von zehn Insassen der Sicherungsverwahrung unnötig weggesperrt wurden. Angst vor Entlassenen hält er für "unangemessen"
taz: Herr Feltes, mehr als 80 rückfallgefährdete Straftäter sollen aus der Sicherungsverwahrung freikommen. Die Justizminister der Länder und viele Gerichte blockieren, wo sie nur können. Was empfehlen Sie als Kriminologieprofessor?
Thomas Feltes: Die Betroffenen sind sofort aus der Haft zu entlassen. Das Straßburger Urteil ist verbindlich. Wer veranlasst, dass diese Personen weiter im Gefängnis bleiben müssen, begeht Rechtsbeugung.
Meinen Sie damit auch das Bundesverfassungsgericht, das mehrere Eilanträge abgewiesen hat?
Ich bin mal gespannt, ob einer der abgewiesenen Antragssteller nach Straßburg geht und dort Eilrechtsschutz beantragt. Das könnte für Deutschland ziemlich peinlich werden.
Thomas Feltes, 59, ist seit 2002 Professor für Kriminologie und Polizeiwissenschaft an der Uni Bochum. Zuvor war er zehn Jahre lang Rektor der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen. Er ist zudem Berater des Europarats, der UN und der OSZE.
Die Sanktion: Bei der Sicherungsverwahrung muss ein Täter auch nach Verbüßung seiner Strafe im Gefängnis bleiben - so lange, bis er nicht mehr als gefährlich gilt. Derzeit sitzen in Deutschland rund 500 Personen in Sicherungsverwahrung, Tendenz stark steigend.
Das Urteil: Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) führt dazu, dass rund achtzig Straftäter aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden müssen. Sie waren vor 1998 nach schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen zu langen Haftstrafen plus Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Bis dahin war die Verwahrung auf zehn Jahre befristet, seit 1998 gilt sie zeitlich unbeschränkt - auch für die bereits verurteilten Altfälle. Diese Rückwirkung eines Strafgesetzes sei verboten, urteilten im Dezember 2009 die EGMR-Richter. Für diese Altfälle endet die Verwahrung also doch nach zehn Jahren. Von den rund achtzig Straftätern wurden bereits 16 freigelassen. Derzeit diskutieren die Justizminister von Bund und Ländern, wie mit den Entlassenen umgegangen werden soll. Die CDU/CSU würde die Entlassenen am liebsten sofort wieder vorsorglich einsperren, was aber rechtlich nicht geht.
Die Reform: Neben dieser akuten Frage hat die schwarz-gelbe Koalition auch eine gründliche Reform der Sicherungsverwahrung angepackt. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) will dabei die Sicherungsverwahrung auf Sexual- und Gewalttäter beschränken. Notorische Diebe und Betrüger sollen nicht mehr weggesperrt werden. Außerdem will die Ministerin die 2004 erst eingeführte nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung wieder abschaffen. Als Ersatz schlägt sie vor, häufiger die Sicherungsverwahrung bereits im Strafurteil "vorzubehalten". Schon für Ersttäter will sie diesen Weg öffnen, während bisher nur Rückfalltäter in Verwahrung kamen. Die Union lehnt die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ab. Die geplante Reform ist keine Folge des EGMR-Urteils vom Dezember 2009, sondern war schon im Koalitionsvertrag vorgesehen. (chr)
Wenn Sie Justizminister wären, würden Sie also noch heute alle Betroffenen aus der Verwahrung entlassen?
Natürlich. Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Das Urteil aus Straßburg ist seit Dezember 2009 bekannt, seit Mai ist es rechtskräftig. Die Haftanstalten hatten also genug Zeit, die Betroffenen auf die Haftentlassung vorzubereiten und eine gute Betreuung nach der Entlassung zu organisieren. Ich hoffe, dass die meisten Bundesländer das gemacht haben.
Viele der bereits Entlassenen werden jetzt rund um die Uhr überwacht, im Schichtdienst von bis zu 24 Polizisten.
Für so etwas ist Geld da! Aber wenn man zwei Bewährungshelfer braucht, die bei der Integration in den neuen Alltag helfen, da fehlen dann die Mittel.
Genügen Sozialarbeiter im Umgang mit gefährlichen Sexual- und Gewaltstraftätern?
Die Gefährlichkeit dieser Leute wird extrem überschätzt. Viele von ihnen sind inzwischen schon alt geworden. Außerdem ist die Vorstellung, dass in der Sicherungsverwahrung nur Menschen sitzen, die sonst neue schwere Straftaten begehen, nachweislich falsch. Von zehn Verwahrten sind neun unnötig inhaftiert, weil sie gar nicht rückfällig geworden wären.
Woher wollen Sie das wissen?
An meinem Lehrstuhl haben wir im Vorjahr eine Untersuchung abgeschlossen, die das belegt. Dabei wurde der Werdegang von 67 Straftätern untersucht, bei denen Haftanstalten - gestützt auf Gutachten - eine fortdauernde Gefährlichkeit prognostizierten und deshalb nachträglich Sicherungsverwahrung beantragten. Aus rechtlichen Gründen lehnten die Gerichte dies jeweils ab. Und wir konnten prüfen, ob die angeblich so gefährlichen Täter tatsächlich neue Gewalttaten verübten.
Und? Wie viele der 67 Entlassenen wurden rückfällig?
Dreiundzwanzig begingen zwar neue Straftaten, aber meist handelte es sich nur um kleine Diebstähle oder Drogendelikte, also nichts, was eine vorsorgliche Inhaftierung gerechtfertigt hätte. Wegen neuer Gewalttaten wurden nur drei Personen rechtskräftig verurteilt. Selbst wenn sich diese Zahl in den folgenden Jahren verdoppelt, weil noch Fälle vor Gericht anhängig sind, wären das nur zehn Prozent der Entlassenen. Die übrigen 90 Prozent wären unnötig in Sicherungsverwahrung gesteckt worden.
Woran liegt es, dass so viele Personen unnötig in Sicherungsverwahrung landen?
Das ist vor allem ein Problem der Sachverständigen. denen es oft an Rückgrat fehlt. Manche freiberuflichen Psychologen leben von solchen Gutachten, die gut bezahlt werden - mit 100 Euro pro Stunde und mehr. Da gehen viele lieber kein Risiko ein, aus Angst, sie könnten keine Aufträge mehr bekommen.
Sie meinen das Risiko, dass es entgegen der Prognose doch zu einem Rückfall kommt?
Nicht nur. Es genügt ja schon, dass mehrfach die Erwartung des Gerichts enttäuscht wird und deshalb die Aufträge ausbleiben. Bei Tätern, die bereits eine lange Kriminalitätskarriere haben, spricht auf dem Papier ja zunächst vieles dafür, eine Rückfallgefahr und einen Hang zu gefährlichen Straftaten anzunehmen. Da ist es doch bequem und entspricht der Erwartung, wenn man einfach die alten Gutachten abschreibt. Wer jedoch gegen den Strom schwimmt und sich ganz neu mit der Situation eines Straftäters auseinandersetzt, muss viel mehr Kraft investieren und auch noch die Richter überzeugen.
Also sind nicht nur die Gutachter, sondern auch die Richter schuld?
Ja. Richter, die voreingenommen sind oder nicht kritisch nachfragen, sind ebenfalls ein Problem. Und da Richter einen sicheren Arbeitsplatz haben, ist ihnen sogar der größere Vorwurf zu machen.
Könnte die Qualität der Prognosen so gesteigert werden, dass tendenziell nur noch Straftäter in der Sicherungsverwahrung landen, die wirklich anhaltend gefährlich sind?
Das halte ich mittelfristig für machbar. Die Gutachter müssten dann aber speziell für gerichtliche Zwecke ausgebildet werden und in interdisziplinären Teams arbeiten. Noch besser fände ich es aber, die Sicherungsverwahrung ganz abzuschaffen.
Dann würden aber auch die fortdauernd gefährlichen Täter entlassen.
Nein, vielmehr müsste dann endlich während der Haftzeit vernünftig mit den Tätern gearbeitet werden. Statt dem bisherigen Verwahrvollzug müsste ein therapeutisches Milieu geschaffen werden. Statt Schließern müsste es im Gefängnis viel mehr Psychologen geben. Dann würden Rückfälle schon im Ansatz verhindert und die Allgemeinheit würde nachhaltig geschützt.
Sie versprechen hundert Prozent Sicherheit?
Natürlich nicht. Niemand kann das versprechen. Aber statt Ängste zu schüren, sollten Politik und Medien eher die Bereitschaft der Gesellschaft fördern, auch mal eine Fehlprognose und ein gewisses Restrisiko zu akzeptieren. Die meisten Gewaltdelikte werden ja ohnehin von Ersttätern und nicht von Rückfälligen begangen.
Was halten Sie von den Reformvorschlägen der Justizministerin? Sie will die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung abschaffen und die vorbehaltene Verwahrung ausbauen.
Das ist bei Weitem nicht so liberal wie es von der FDP verkauft und von der Union befürchtet wird. Unter dem Strich könnte der Plan sogar dazu führen, dass deutlich mehr Sicherungsverwahrung verhängt wird als bisher. Denn der Strafrichter macht sich vermutlich weniger Gedanken, wenn er in seinem Urteil die Verwahrung nur vorbehält und nicht endgültig anordnet. Später könnte es dann einen gewissen Automatismus geben und die nur vorbehaltene Verwahrung würde dann ohne großes weiteres Nachdenken tatsächlich vollstreckt.
Anders als bisher soll die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch für Ersttäter ermöglicht werden.
Damit könnte ich leben, wenn zugleich die Qualität der Gutachten steigen würde. Schließlich kann ein Ersttäter nach der Haftentlassung genauso gefährlich sein, wie ein Täter, der schon mehrfach rückfällig wurde.
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