: Reiches Kreuzberg, armer Kiez
BRENNPUNKT Gleich neben dem schicken Graefekiez hat die Werner-Düttmann-Siedlung noch viele Herausforderungen wie Bildungsprobleme und Armut zu meistern. Das Quartiersmanagement fördert den Zusammenhalt der Mieter in einem Kiez, der die ersten Anzeichen der Gentrifizierung schon zu spüren bekommt
VON MARLENE GOETZ
Auf dem Wohnzimmertisch liegen Stifte, Hefte und Schulbücher. Hayad Moustapha, die langen dunklen Haaren zu einem Zopf geflochten, beugt sich über ihre Matheaufgabe. Trotz des Lärms ihrer kleineren Geschwister, die nebenan durch den Flur toben, ist die Elfjährige konzentriert. Sie schreibt ein paar Zahlen auf, und wendet sich dann hilfesuchend zu Tina Reiß, die neben ihr sitzt. Die junge Frau lächelt, lobt das Mädchen für den Lösungsversuch und erklärt noch einmal die Übung. Nach einer Stunde kommt Hayads jüngere Schwester Dounia ins Wohnzimmer. Jetzt ist sie an der Reihe, mit der Lernpatin Hausaufgaben zu machen.
Nur eine Straßenkreuzung trennt den schicken Kreuzberger Graefekiez von der Werner-Düttmann-Siedlung, einem in die Jahre gekommenen Neubauquartier. Seit 2004 lebt Familie Moustapha hier, in einer gemütlichen Drei-Zimmer-Wohnung voller orientalischer Dekorationen und Bilder aus der palästinensischen Heimat.
Als Hayad im vergangenen Jahr immer größere Schwierigkeiten in der Schule bekam und die fünfte Klasse wiederholen musste, konnten ihr die Eltern nicht weiterhelfen. Beide wurden in einem libanesischen Flüchtlingslager geboren, keiner ging lange in Deutschland zur Schule. Aber die sechs Kinder sollen ihre Chance bekommen. Für Hayad ist Tina Reiß diese Chance: Die 24-Jährige engagiert sich als Lernpatin beim Projekt „Elhana“ und besucht die Moustaphas zweimal pro Woche zur Hausaufgabenhilfe. Ein Nachbar habe ihn auf das Lernpaten-Projekt aufmerksam gemacht, erzählt der 37-jährige Khaled Moustapha, Hayads Vater.
Eine Welt für sich
In der nach ihrem Architekten benannten Werner-Düttmann-Siedlung leben rund 3.000 Menschen, ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Seit dem Bau der Siedlung Anfang der 80er Jahre sind viele Großfamilien mit Migrationshintergrund in die 577 Sozialwohnungen gezogen, die meisten stammen aus arabischen Ländern, der Türkei oder Ex-Jugoslawien. Allmählich ist die Siedlung – begrenzt durch die Urbanstraße im Norden, die Jahnstraße im Osten, die Hasenheide im Süden und die Graefestraße im Westen – fast zu einem Dorf geworden, einer Welt für sich.
Im Jahr 2012 wurden die Gebäude modernisiert. Wegen der hohen Nebenkosten, die unter anderem auf die Ausstattung mit stromfressenden Nachtspeicheröfen zurückgingen, standen zu dieser Zeit 120 Wohnungen leer. Nun wurden Zentralheizungen eingebaut. Obwohl die Förderung als sozialer Wohnungsbau noch mindestens bis 2040 verlängert wurde, wurden die Mieten ab 2011 „im üblichen Rahmen der Modernisierungen“ angepasst, so die Hausverwaltung. Diese Anpassungen schlugen sich für manche Mieter jedoch in Mietpreiserhöhungen von bis zu 40 Prozent nieder, weil es vor der Sanierung mehrere Jahre keine Anpassung gegeben hatte. Dadurch verändert sich nun auch die Bewohnerschaft.
Laut aktuellen Zahlen des Senats beziehen etwa 60 Prozent der Bewohner Transferleistungen, rund ein Drittel ist stark verschuldet. Damit der Kiez nicht kippt, ist seit 2005 ein Quartiersmanagement (QM) aktiv. „Wir haben das Problem der Kontaktaufnahme in der Düttmann-Siedlung schon sehr gut angegangen“, sagt der grüne Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz. Auch im Bereich der frühkindlichen Bildung seien gute erste Schritte eingeleitet worden. Bildung ist überhaupt ein zentrales Thema. Viele Eltern haben keinen Schulabschluss und entsprechende Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt – das wirkt sich wieder auf den Schulalltag ihrer Kinder aus. Lernpatin Tina Reiß kennt die Herausforderungen: „Die Kinder müssen lernen, selbstbewusst an Aufgaben heranzugehen. Es wird sehr schnell kapituliert“, erklärt die Studentin.
Laut QM-Statistik sind ein Viertel der BewohnerInnen Deutsche mit Migrationshintergrund, ein Drittel Deutsche ohne Migrationshintergrund, und gut 40 Prozent haben keinen deutschen Pass, darunter viele Flüchtlinge. Dani Mansoor, der als Kurde aus dem Irak flüchtete und seit zehn Jahren in der Siedlung wohnt, kennt die Probleme, mit denen ein unsicherer Aufenthaltstitel verbunden ist. „Wenn die Menschen nicht anerkannt sind, können sie nicht studieren oder arbeiten,“ sagt er. „Im Fall der Flüchtlinge werden die schulischen Probleme der Kinder nicht so ernst genommen, weil es viel wichtigere Probleme gibt, wie etwa die Aufenthaltserlaubnis“, weiß der Künstler, der sich auch beim Quartiersmanagement engagiert.
In der Siedlung ist Mansoor eine wichtige Bezugsperson. Die Hausverwaltung hat ihm einen kleinen Raum als Atelier zur Verfügung gestellt, wo vorher Sperrmüll lagerte. Seine Kunstwerke, die dort entstehen, erzählen Geschichten: etwa ein Stuhl, der mit Nägeln gespickt ist, als Metapher für seine Heimat: „Ein Land, in dem man nicht leben kann, ist wie ein Stuhl auf dem man nicht sitzen kann!“
Mansoor will einen Dialog zwischen den BewohnerInnen der Siedlung herstellen. Dazu gehört auch, dass er Beiträge für die Kiez-Zeitung „Graefe Süd“ liefert, Computerkurse erteilt und kulturelle Ausflüge mit den Kindern unternimmt.
Außer dem Lernpaten-Projekt, bei dem derzeit 40 Grundschulkinder betreut werden, ist das QM mit etlichen weiteren Projekten in der Düttmann-Siedlung präsent. Seit 2006 gibt es einen Quartiersrat und einen Nachbarschaftstreff, seit 2007 werden „Kiezlotsen“ gefördert, die Nachbarn Beistand bei Behördengängen anbieten. Ein Kindertreff ist entstanden, es gibt Ernährungs- und Alphabetisierungskurse. „Wir brauchen pragmatische Ideen, die in das Leben der Familien passen“, betont Cornelia Rasulis, Leiterin des Familienbereichs im Nachbarschaftshaus Urbanstraße, das sich als Partner des QM engagiert.
Allein in den vergangenen zwei Jahren hat der Bezirk durch das Förderprogramm „Soziale Stadt“ über 60 Projekte in der Düttmann-Siedlung mit über 340.000 Euro finanziert. Die Hauptschwierigkeit, so Rasulis, bestehe immer noch darin, die Bewohner überhaupt zu erreichen und einzubinden. Verwunderlich findet die Diplompädagogin das nicht: Mütter mit fünf oder sechs Kindern zum Engagement zu bewegen sei nun mal schwierig.
Für Familie Moustapha ist das große Angebot für Kinder ein wichtiger Grund, in der Siedlung zu leben. Obwohl er die Atmosphäre „sehr angenehm“ findet, würde Khaled Moustapha gerne in eine größere Wohnung ziehen, doch seine Frau will hier bleiben. „Ich fühle mich wohl“, argumentiert sie, „ich habe einen Garten und es gibt alles für die Kinder: die Schule, die Kita. Auch die Nachbarn sind nett.“
Immer mehr Deutsche
Mit Sorgen sehen die Moustaphas den Gentrifizierungsprozess, der auch die Düttmann-Siedlung erfasst hat. „Jedes Jahr wird die Miete teurer,“ sagt der Familienvater, „und die neuen Einwohner sind alles Deutsche.“ Manche sehen die Veränderung positiver: „Vor ein paar Jahren waren etwa 90 Prozent der Menschen hier arbeitslos“, sagt ein anderer Bewohner der Siedlung, der lieber anonym bleiben will und zu dessen Sohn ebenfalls eine Elhana-Lernpatin kommt. „Jetzt ist es besser, es gibt viele Studenten.“
Nördlich der Urbanstraße, im schicken Abschnitt der Graefestraße, gibt es immer noch Vorurteile gegenüber der Düttmann-Siedlung. Die Jugendlichen von dort machten schlechte Stimmung, heißt es. Andere bleiben gelassen, wie der Besitzer des Bioladens „Laib und Käse“, Markus Domsch: „Ich habe kein Problem mit der Siedlung, Jugendliche, die randalieren, gibt es überall.“ Seine Kinder gehen auf die gleiche Grundschule wie die aus der Siedlung. Nur der Kontakt mit deren Eltern sei noch zu verbessern. „Da muss man dran arbeiten“, gibt Domsch zu.
Auch Künstler Dani Mansoor sieht noch eine Kluft zwischen den Kiezen: „Nie gehen fremde Leute durch unsere Siedlung“, sagt er. „Vielleicht denken sie, dass es gefährlich ist.“
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