WER BEOBACHTET WEN?: Mein Street View
In manchen Bezirken sollte man sich andere Datenschutzsorgen machen als über Google. Etwa, wer gerade so über einen schreibt. Aber schreibt hier nicht jeder über jeden? Und was macht eigentlich der junge Mann da an dem Auto?
Ich war gerade joggen, morgens, kurz nach sieben. Ich lief durch Prenzlauer Berg und fühlte mich beobachtet. Es wohnen da so viele Journalisten. Sie schreiben ständig über alles, was dort passiert. Prenzlauer Berg ist der medial am besten erfasste Stadtbezirk Deutschlands, vorher könnte höchstens noch Neukölln kommen. In Prenzlauer Berg wohnen sicherlich viele Menschen, die vor Google Street View Angst haben, vor diesen Autos, die die Welt abfotografieren, damit sie anschließend als quadratmeterweite Straßenpostkarten ins Netz gestellt werden kann. Sie sollten sich stattdessen lieber wegen all der Journalisten sorgen, die ihr Leben vielleicht noch viel präziser festhalten als das die Google-Autos je könnten. Im Grunde, dachte ich dann, ist es ziemlich inkonsequent, wenn ich mich beobachtet fühle. Ich beobachte ja selbst. Ich schreibe ja auch ständig über Prenzlauer Berg und in den Pausen über Neukölln.
Vor ein paar Tagen habe ich mich mit einem Autorensänger unterhalten, der sich in Romanen schwerpunktmäßig mit Kreuzberg befasst hatte. Alles mediale Konstrukte, hat er gesagt, dieser ganze Gentrifizierungsquatsch. Seien eben ein paar Kleinbürger nach Prenzlauer Berg gezogen. Dieses Jammern über die Änderung der Bevölkerungsstruktur: zutiefst reaktionär. Wie früher in Kreuzberg: Da habe man über die vielen Türken gejammert. Jetzt seien es eben die Schwaben. Menschen schreiben an Wände, dass die Schwaben gehen sollen. Astreiner Rassismus, hat der Autorensänger gesagt. Wie einst die SA, hat der Feuilletonchef einer Berliner Zeitung geschrieben, wenn sie Autos anzünden und gewalttätig werden, die Schwabengegner.
Ich bin ein von Natur aus zutiefst unentschlossener Mensch, ich bin auch in dieser Sache sehr unentschlossen. Ich wohne gerne in dieser Ecke, an der Grenze zum Wedding. Wahrscheinlich würde ich hier heute keine Wohnung mehr finden. Zu teuer. Ob man daran aber etwas ändert, wenn man Autos anzündet? Außerdem mag ich Schwaben. Ich habe sehr gute schwäbische Freunde. Die Schwaben, hat der Autorensänger gesagt, haben Kreuzberg erst zu dem gemacht, was es ist. Zusammen mit den Türken. Na ja, und mit den Antifas. Und so fort. Der junge Mann in den schwarzen Klamotten wäre mir dann fast nicht aufgefallen. Er steht in einer Seitenstraße neben einem dieser Mini Coopers. Schwarze, kurze Hose, schwarze Sonnenbrille, schwarzes Oberteil, kurze blonde Haare. Er hat etwas in der Hand, das aussieht wie ein großer weißer Luftballon. Vielleicht ist es aber auch ein Motorradhelm, denke ich. Da kracht es.
Der junge Mann hat das weiße Ding gegen den Spiegel des Kleinstwagens geschlagen. Er hat den Spiegel damit abgeschlagen. Jetzt geht er weiter, als wäre nichts passiert. Auch ich bleibe nicht stehen, und während ich das nicht tue, frage ich mich, ob es staatsbürgerlich betrachtet nicht angebrachter wäre. Aber was soll ich tun? Ihm hinterherrennen, ihn stellen, die Polizei rufen?
Ich habe einmal ein paar junge Männer, die aus einer Disco gestürmt sind, vom Prügeln abgehalten. Ich habe einen festgehalten, so richtig von hinten, mit Armen um die Brust. Der Kopf des anderen schien mir zu nahe an einem Straßenbahngeländer. Genickbruchgefahr. Zwischenzeitlich wollte mir einer eine Flasche über den Kopf ziehen. Ich habe ihn so lange angeschrien, bis er sie fallen ließ. Das war auch in Prenzlauer Berg. Eberswalder Straße. Ein paar Freunde haben danach gesagt, ich soll so etwas nie wieder machen. Ich sei ja wohl lebensmüde.
Ist Gleichgültigkeit die angemessenste Reaktion? Auch jetzt bei diesem demolierten Mini Cooper. Nur ein Auto, ein ganz kleines zumal. Nur ein Außenspiegel. Versucht er im Zweifel nicht auch meine Miete zu mindern, der junge Mann in Schwarz?
Oder ist das überhaupt kein Antifa-Aktivist auf morgendlicher Mietminderungstour, sondern einer dieser Neonazis, die sich auch häufiger in der Gegend herumtreiben, die sich oft wie Antifas kleiden, seit ein paar Jahren jetzt schon? Ist das vielleicht sogar ein Antifa-Auto, eine Einschüchterungskampagne? Dann müsste ich vermutlich Angst um meine Zähne haben, wenn ich ihm hinterherlaufe.
Ich frage mich, ob so ein Mini Cooper tatsächlich ein Zeichen von Reichtum ist. Ich frage mich, was dieser junge Mann sonst so zerschlägt. Ich frage mich außerdem, warum er so etwas nicht erledigen kann, wenn es noch dunkel ist und ich schlafe. Diskreter. Das würde mir einige dieser Fragen ersparen.
Während ich überlege, bin ich schon so weit gelaufen, dass ich ihn gar nicht mehr sehen kann.
Es ist wirklich einiges los in Prenzlauer Berg. Man darf das auf keinen Fall verschweigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will