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Kolumne GeräuscheSchneeflöckchen, Weißröckchen

Kolumne
von Arno Frank

Schnee im September und irre Geräusche – jetzt ist es also passiert. Ich bin verrückt geworden.

N eulich war ich mal wieder ganz knapp davor, wahnsinnig zu werden. Nicht im Sinne von "Ich glaube, ich werd verrückt!", sondern richtig wahnsinnig, so wie in: "Ich höre und sehe Dinge … bitte helfen Sie mir! Ich halte das nicht mehr aus!" In der Nacht zuvor hatte ich vergeblich versucht, drei Berge zu besteigen. Das weiß ich noch. Der erste war aus bröckeligem Schiefer, der zweite aus feuchtem Gras, der dritte aus morastiger Nutella. Ich war an allen drei Bergen gescheitert und steckte zuletzt, kurz vorm Aufwachen, nur fünf Meter von meinem Basislager entfernt hüfthoch in schön klebriger Schokoladenpampe.

Noch nicht ganz bei mir werkele ich kurz darauf in der Küche herum. Draußen dämmerts gerade, die Kastanie im Hof greift mit ihren Zweigen ziellos durch den Herbstwind, die ersten dicken Schneeflocken treiben vor dem Fenster vorbei. Ich halte inne. Kann das sein? Schnee im September? Zugleich macht es "prrrrt" in meinem Kopf. Ich bekomme es mit der Angst zu tun.

Nach und nach trudelt meine Frau ein und setzt sich zu mir, mit dem Rücken zum Fenster. Es schneit noch immer. Sie nippt am Espresso, schlägt die Zeitung auf, entdeckt einen Artikel und eröffnet unvermittelt eine Debatte über das Für und Wider energetischer Sanierungen: "Wärmedämmungen!", faucht sie: "Wenn ich das schon höre!" Ich murmele halbherzig etwas von Klima- bzw. Naturschutz, werde aber prompt überrollt: "Da wird doch tonnenweise Styropor verbaut! Und was passiert wohl in dreißig, vierzig Jahren? Na?" Ich zuckte überfordert mit den Schultern. "Irgendwann muss das ganze Zeug wieder runter von den Wänden", erläutert sie. "Und wohin dann mit dem Sondermüll? Das wird wie mit dem Asbest, warts nur ab!"

taz

Arno Frank (36) ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und erschlägt manchmal kleine Hunde.

Ich warte ab. Meine Frau hat sich wieder stirnrunzelnd in die Zeitung vertieft. Hinter ihr rieselt leise der Schnee. Ich denke an die Brandwand unseres Mietshauses. Die ist erst kürzlich neu wärmegedämmt worden und jetzt einen halben Meter dicker als zuvor. Ich sage nichts, denn da ist wieder dieses Geräusch. Ein kompliziert geklöppeltes Trommeln, immer nur ganz kurz, wie eine von Aphex Twin, Autechre oder Squarepusher programmierte Sequenz. Jetzt ist es also passiert. Ich bin verrückt geworden. Wieder macht es "prrrrrt", mit gerolltem r, und Schnee fällt, mir entfährt ein leicht irres Kichern. Plötzlich schaut meine Frau auf und hebt eine Augenbraue: "Hörst du das?", fragt sie, steht auf und öffnet das Fenster. Sie beugt sich hinaus und späht nach oben. Schnee fällt sachte auf ihre Schultern, als sie ruft: "Ha! Na so was! Habe ich dir nicht gesagt, dass das Zeug nichts taugt? Und jetzt schau dir das an!"

Ich beuge mich raus und kann es nicht fassen. Dort sitzt er, fünf Meter über uns und geschäftig die rings umher niederrieselnde Styroporfüllung von der Wand hackend. Ein Specht. Hier in der Innenstadt. So viel zum Thema Naturschutz. Und zum Thema Wärmedämmung auch.

Text: "I aint got time for the niceties. Or rather I was never, never fond of the niceties" (Vic Chesnutt, "See You Around")

Musik: Das "Plock!" einer Kastanie, die auf Beton fällt.

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Inlandskorrespondent

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