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Neue Regierung in TunesienDie Revolution frisst ihren Opa

Der neue tunesische Premier Caïd Essebsi ist 84, sein bisheriger Karrierehöhepunkt war die Bewältigung eines Putschversuches im Jahr 1962.

Tunesiens Übergangspräsident Fouad Mebazaa. Bild: dapd

MADRID taz | Tunesien hat einen neuen Premierminister. Nach dem Rücktritt von Mohammed Ghannouchi am Sonntag ernannte Übergangspräsident Fouad Mebazaa noch am gleichen Tag Béji Caïd Essebsi zum Nachfolger. Ob der 84-jährige Anwalt das Vertrauen der Demokratiebewegung gewinnen kann, ist allerdings ungewiss. Er war noch nicht einmal vereidigt, da liefen Twitter und Facebook heiß: "Ein 84-Jähriger für die Revolution der Jugend?", war zu lesen. Kritiker bezeichnen seine Ernennung als "überstürzt", sie hätte einer "Abstimmung mit allen politischen Kräften bedurft".

Caïd Essebsi war ein enger Vertrauter des ersten Präsidenten Tunesiens nach der Unabhängigkeit 1956, Habib Bourguiba. Da der Anwalt seit 1994 keinerlei politische Ämter mehr innehatte, gilt er den meisten heute als "sauber". Nur wenige erinnern sich an Essebsi als Sicherheitschef und Innenminister unter Bourguiba. In seine Amtszeit fällt ein gescheiterter Putschversuch im Dezember 1962. 26 Militärs und Zivilisten wurden damals zu langen Haftstrafen verurteilt.

In seine Zeit als Minister im Ministerpräsidentenamt und später als Außenminister in den Jahren, bevor Bourguiba 1987 von Ben Ali gestürzt wurde, bewältigte Essebsi zwei schwere Krisen. 1982 nahm Tunesien die PLO-Kämpfer auf, die aus Beirut vertreiben worden waren. PLO-Chef Jassir Arafat richtete sein Hauptquartier in einem Vorort von Tunis ein. 1985 wurde das Gebäude von der israelischen Luftwaffe bombardiert. Nach dem Machtwechsel am 7. November 1987 schickte Ben Ali den Bourguiba-Getreuen als Botschafter nach Bonn. Erst 1990 kehrte er für ein Jahr als Parlamentspräsident in die nationale Politik zurück. 1994 zog er sich endgültig zurück.

Ali Ben Salem ist einer derjenigen, die für den gescheiterten Staatsstreich von 1962 bezahlten. "Ich glaube nicht, dass der neue Ministerpräsident in der Lage ist, Tunesien in dieser schwierigen Situation zu führen", erklärt der 78-jährige Menschenrechtler telefonisch aus Bizerte. "Caïd Essebsi ist ein Mann des alten Apparates. Die Proteste werden weitergehen, bis wir eine wirklich neue Regierung haben."

Die Demonstranten, die seit Sonntag vor einer Woche Tag und Nacht ein Sit-in auf dem Platz vor dem Regierungssitz in Tunis abhalten, sehen dies genauso. "Wir werden bis zur Wahl einer verfassunggebenden Versammlung bleiben", kündigte ein Sprecher an. Im Stadtzentrum von Tunis, in dem es nach der gewaltsamen Auflösung einer Großdemonstration für eine verfassunggebende Versammlung am Freitag mindestens fünf Tote gegeben hatte, herrschte am Montag gespannte Ruhe.

Der "Rat zum Schutz der Revolution", dem 28 Parteien und Gruppen angehören, schließt sich der Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung an. Außerdem verlangt er "einen Premierminister, der das Ergebnis eines Konsenses ist", so der Vorsitzende der tunesischen Menschenrechtsliga, Mokhtar Trifi. "Eine Regierung des Volkes muss die aktuelle Regierung ersetzen", erklärt auch die islamistische Ennahda.

Die Generalsekretärin der Demokratisch-Fortschrittlichen Partei (PDP), Maya Jribi, die mit einem Minister in der Übergangsregierung vertreten ist, mahnt zur Besinnung. Sie hofft, "dass die Ernennung von Caïd Essebsi dem Prozess, der Tunesien zu freien Wahlen führen soll, ein zweites Leben einhaucht". Die Regierung hatte bereits vor Ghannouchis Rücktritt Wahlen bis spätestens Mitte Juli angekündigt, ohne allerdings zu sagen, was dann gewählt werden soll.

Caïd Essebsi wird immer wieder mit einem Satz zitiert: "Die Demokratie hat zwei Feinde: die Diktatur und diejenigen, die alles wollen, und das sofort."

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