: Rohstoff für den Untergrund
WEITERMÜLLERN Das Theaternetzwerk Neuer Notwendiger Untergrund spielt Pressekonferenz und Heiner-Müller-Geist-Verwaltung
Eine Pressekonferenz als Teil der Inszenierung: Wer fühlt sich da nicht an Medienkampagnen wie für die Kino-Polit-Satire „Ich kandidiere“ im vergangenen Herbst erinnert? Doch im Gegensatz zur Witzfigur Horst Schlämmer malträtieren die Aktivisten des Neuen Notwendigen Untergrunds (NNU) ihre Gäste in der Theaterkapelle Friedrichshain mit schwerer intellektueller Kost, um den Spielplan ihrer „Hamletfabrik II“ vorstellen. Bis zum 10. Januar werden sie mit Theater, Lesungen und Konzerten das geistige Erbe Heiner Müllers in Erinnerung rufen.
Kalkulierte Albernheit
Eines allerdings hat das Netzwerk freier Theaterschaffender mit Hape Kerkeling, der den vermeintlichen Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl mimte, gemeinsam: Um Politik und Gesellschaft kritisch zu hinterfragen, scheuen sie sich nicht vor kalkulierten Albernheiten. Wie zum Beispiel vor der symbolischen Besetzung des einstigen Gotteshauses an der Boxhagener Straße. Schon die Schlüsselübergabe gibt einen Vorgeschmack auf die teils pathetische Inszenierung der Selbstironie, die das Ensemble prägt: Christina Emig-Könning vom Theaterkapellen-Vorstand reckt die rechte Faust, dass die Dreadlocks durch den Nieselregen wirbeln, und tönt: „Um das Theater wieder in der Mitte der Gesellschaft zu verorten, brauchen wir den Untergrund.“
Uwe Schmieder, der künstlerische Leiter des NNU, nimmt den inhaltlichen Faden mit breitem Grinsen auf. Er trägt Narrenkappe, eine Mischung aus Hahnenkamm und Irokesenschnitt. Halb Agitator und halb Clown, stapft er über die Bühne, die die gesamte Theaterkapelle durchmisst, während Mitschnitte vom „Hamletfabrik“-Workshop über aufgetürmte Bildschirme flimmern. Die fast schon sakrale Erwartung einer Verkündigung macht sich breit, als sich der 50-Jährige mit ausladenden Gesten hinterm Katheder hoch über der Bühne postiert und den Geist umschreibt, der hinter dem diesjährigen Müller-Programm steht. „Keine Lösung zu haben, ist die Lösung“, dröhnt es über die vollbesetzten Kirchenbänke hinweg: weder für die permanente Krise der Off-Kultur noch für die dem Kapitalismus immanenten Widersprüche.
Zwang und Freiheit
Gemeinsam mit Schauspielerin Aurora Kellermann bedient sich Schmieder aus Heiner Müllers „Zur Lage der Nation“ – jenem Gesprächsband, worin sich der am 30. Dezember 1995 verstorbene Dramatiker in gewohnt drastischer Weise an gescheiterten Revolutionen, einem naiven Bild vom „Haus Europa“, das die Egoismen und Ausgrenzungsstrategien des Kontinents ignoriert, sowie an Auswüchsen der Konsumgesellschaft abarbeitet. Zum Auftakt der „Hamletfabrik II“ formte der Dramaturg Eckart Seilacher daraus ein Plädoyer für die Selbstbefreiung des Theaters.
Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Zwang steht auch im Mittelpunkt der Inszenierung der „Hamlet: maschine“. „Stalinistische Zustände, gescheiterte Revolutionen und die Frage, was Theater bewirken kann, sind die Aspekte, die diesen Text für uns interessant machen“, sagt Schmieder. Die Darsteller werden dabei vom „Chor der aufgeweckten Visionäre“ unterstützt, dessen fröhlich geschmetterte Randfichten-Anleihe „Lebt denn der alte H. Müller noch?“ an diesem Tag das Bühnengeschehen untermalt. „Das Individuum tritt aus dem Chor heraus und fragt, auch an die Zuschauer gerichtet: Was kann eine Masse bewegen?“ Damit umschreibt Schmieder in etwa, was das Publikum vom „Produkt“, das der NNU aus Müllers „Rohstoff“ macht, mit nach Hause nehmen soll. NILS MICHAELIS
■ Mehr Infos zur „Hamletfabrik II“ gibt es im Internet unter nnu.twoday.net
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