Konjunktur in der Türkei: Der Boom am Bosporus
An der Ägäis prallen wirtschaftlich unterschiedliche Welten aufeinander: Während Griechenland darbt, boomt die Türkei. Wachstumsmotor ist der Inlandskonsum.
ISTANBUL taz | Griechenland steht kurz vor dem Kollaps, die gesamte Eurozone stöhnt unter der staatlichen Schuldenlast, nur der Türkei geht es wirtschaftlich so gut wie lange nicht. Nach den letzten Angaben des türkischen Statistischen Instituts hat das Land im ersten Halbjahr 2011 sogar das höchste Wachstum weltweit hingelegt.
Das staatliche Institut legte in dieser Woche die Zahlen für das zweite Quartal vor und korrigierte seine Zahlen für das erste Quartal noch einmal nach oben: 11,6 Prozent Wachstum im ersten und 8,8 Prozent im zweiten Quartal gegenüber 2010, macht einen Schnitt von 10,2 Prozent und liegt damit sogar leicht über China, das bei 9,6 Prozent lag.
Der türkische Wirtschaftsminister Ali Babacan führt dieses selbst gegenüber den anderen erfolgreichen Schwellenländern erstaunliche Wachstum auf einen "robusten privaten Sektor mit hohen Investitionen im eigenen Land" und einen gesunden Bankensektor zurück. Die ausländischen Direktinvestitionen halten sich jedoch im Rahmen; sie liegen im ersten Halbjahr bei nur rund 7 Milliarden US-Dollar.
Europas Wirtschaft wird nach einer neuen Prognose aus Brüssel zum Jahresende fast gar nicht mehr wachsen. Für das dritte und vierte Quartal rechnet die EU-Kommission mit jeweils 0,2 Prozent Wachstum, für Deutschland mit 0,4 und 0,2 Prozent, wie sie am Donnerstag mitteilte. Währungskommissar Olli Rehn nannte die weitere Entwicklung angesichts der Schuldenkrise "äußerst ungewiss". Zum Jahresende kommt die Konjunktur demnach "nahezu zum Erliegen". In der Eurozone dürfte es dann nur noch 0,1 Prozent Zuwachs zum Bruttoinlandsprodukt geben.
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Für das Gesamtjahr sehen die Prognosen immerhin ein Wachstum von 1,6 Prozent gegenüber 2010 in der Eurozone vor und von 1,7 Prozent für alle 27 EU-Staaten zusammen. Im Frühjahr hatte die Kommission mit 1,6 beziehungsweise 1,8 Prozent für das ganze Jahr gerechnet.
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Zur Erläuterung der Lage verwies Rehn auf die Krise wegen hochverschuldeter EU-Staaten wie Griechenland: "Die Staatsschuldenkrise hat sich verschlimmert, und die Turbulenzen an den Finanzmärkten werden die Realwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen." Die Finanzmärkte seien auch durch die Sorge um den US-Haushalt belastet worden. Daneben sei die Inlandsnachfrage weiter schwach.
Die Jugend will Wohnraum und Autos
Das Wachstum beruht also im Wesentlichen auf dem wachsenden inländischem Konsum von 75 Millionen Menschen und einer hohen Erwartung der türkischen Firmen in die zukünftige Entwicklung des Landes, die eben zu großen Investitionen führt. Das größte Problem der türkischen Ökonomie ist das hohe Außenhandelsdefizit.
Das wichtigste Geheimnis des türkischen Erfolgs ist die junge wachsende Bevölkerung, die im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern noch einen erheblichen Nachholbedarf bei Wohnraum, Autos und Ähnlichem hat. Zudem gibt es seit dem Amtsantritt der AKP 2002 ein stabiles, wirtschaftsfreundliches Umfeld. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan fördert die Industrie nach Kräften, vor allem auch in weniger entwickelten Gebieten in Zentralanatolien. Gleichzeitig haben es die Gewerkschaften in der Türkei extrem schwer.
Grauer Arbeitsmarkt bleibt riesig
Der Staat legt zwar einen Mindestlohn fest, in Tarifverhandlungen ziehen die Gewerkschaften aber zumeist den Kürzeren, weil es praktisch kein legales Streikrecht gibt. Die Löhne sind deshalb nach wie vor relativ niedrig, die meisten Beschäftigten sind auch nicht regulär sozialversicherungspflichtig angestellt, sondern arbeiten mit Heuern-und-Feuern-Verträgen bei Subunternehmen.
Auch der graue Arbeitsmarkt, in dem ohne Steuern und Versicherung, im Familienbetrieb oder als fliegender Händler gearbeitet wird, ist nach wie vor riesig. Deshalb sind auch die Zahlen der Arbeitslosenstatistik wenig aussagekräftig. Experten schätzen, dass man die offizielle Zahl von knapp 10 Prozent verdoppeln muss, um die Realität zu treffen.
Istanbul wächst und wächst
Trotzdem ist der Aufschwung deutlich spürbar. Vor allem der Großraum Istanbul liegt auch im weltweiten Maßstab unter den fünf am schnellsten wachsenden Regionen. Die Erdogan-Regierung hat es geschafft, Istanbul zu einer ökonomischen Drehscheibe zu machen, von der aus Firmen über die Türkei hinaus den Balkan, Zentralasien und neuerdings auch verstärkt den gesamten Nahen Osten bedienen.
Entsprechend wird in Istanbul gebaut, was das Zeug hält, und Erdogan heizt den Bauboom durch staatliche Großprojekte zusätzlich an. Fast 50 Prozent des türkischen Bruttosozialprodukts werden im Großraum Istanbul erwirtschaftet. Entsprechend hält der Zustrom in die Metropole am Bosporus an. Während in ganz Griechenland gerade einmal 10 Millionen Menschen leben, wird Istanbul in den kommenden Jahren wohl von 15 auf bis zu 25 Millionen Einwohner wachsen. Das sind goldene Zeiten für die Betonindustrie.
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