Politischer Publizist Holger Strohm: Kein Titel für den alten Helden
Die Dissertation ist in Ordnung, sagen Doktorvater und Gutachter. Aber offensichtlich verstört der unbequeme Promovend. Holger Strohm wird sein Titel vorenthalten.
BREMEN/MÖLLN taz | Dies ist eine Geschichte von alten Männern: Sie sind verstrickt in eine seltsame Intrige um eine Dissertation über Lehrergewalt. Denn ohne Intrige wäre die Angelegenheit ja längst erledigt, mit dem regulären Schlussakt, dem Prüfungskolloquium am 12. Dezember 2006.
Längst könnte Holger Strohm sich Doktor nennen und nicht mehr nur "der Papi der Grünen", wie manchmal im Scherz - und ganz zu Recht.
Man hätte ihn zum Doktor phil. promoviert, im zarten Alter von 69 Jahren. Doch das ist verhindert worden, auf eine Art, die "mit einem an den Rechtsstaat gebundenen Ablauf nichts zu tun hat". So urteilt der ehemalige Hamburger Verfassungsrichter Harald Falckenberg. "Das ist", sagt er, "ein einzigartiger Fall schikanösen Verhaltens."
69, in Mölln geboren, lebt dort und in Sao Teotonio (Portugal), ist ein politischer Publizist. Bücher wie "Umweltsch(m)utz" (1972) und "Der Umweltschutzreport" (1973) mit Beiträgen von Elliott Trudeau, Willy Brandt und Olof Palme machten ihn zu einem Pionier ökologischer Politik in Deutschland. zuvor war Strohm, der in Berlin, Toronto und Göteborg studiert hat, in den USA und Schweden als Industrieberater tätig gewesen.
Damit war 1973 Schluss, als sein epochales Werk "Friedlich in die Katastrophe" erschien: In bis heute unerreichter Vollständigkeit bündelt es die Risiken und Negativfolgen der Kernenergie aus wirtschaftlich-sozialer, gesundheitlicher sowie ökologischer Perspektive. Das lange vergriffene Buch wurde soeben von der Hamburger edition nautilus neu aufgelegt.
Die SPD schloss Strohm 1978 aus, weil er als Spitzenkandidat für die Bunte Liste Hamburg auftrat, die bei der Bürgerschaftswahl 3,5 Prozent erreichte. Aktuell gehört er keiner Partei an.
Eine Promotion legal zu stoppen, ist auch in Bremen möglich. Als letzte Gelegenheit für inhaltliche Einsprüche sieht die Promotionsordnung das Prüfungskolloquium vor. Zuvor hat die Arbeit wochenlang zur Einsicht auszuliegen, mit den Gutachten. Und der Promotionsausschuss muss diese angenommen und die Prüfungskommission berufen haben.
Im Fall Strohm hat er das am 6. August 2006 getan, ohne Widerspruch. Zum öffentlichen Kolloquium sind keine Zuschauer gekommen, sagen alle, die dabei waren an jenem grauen Abend im Dezember. Es ist 18 Uhr, die Prüfungskommission nimmt Platz: eine Studentin, vier Professoren. Einer wird zum Vorsitzenden gewählt, ein anderer führt das Protkoll.
Der Prüfling sitzt am Kopfende. Er trägt Anzug, weißes Hemd und Schlips. Einst hat er die lila Latzhose als Politmode etabliert. Der Kandidat reicht ein Thesenpapier aus. Die Prüfer monieren argumentative Schwächen. Er reagiert schroff. Der Vorsitzende vermittelt. "Ende des Kolloquiums: 19.10 Uhr", notiert der Protokollant.
Gegen erwiesene Mauschelei könnte der Promotionsausschuss jetzt noch einschreiten, und Bedenken darf er erheben gegen die Form des Kommissionsberichts, aber nur mit Begründung. Gar nicht ins Gewicht fallen dürfen Ethos, Überzeugungen oder Nase des Doktoranden.
Es geht um die Sache
Auch wozu Strohm den akademischen Grad anstrebt, muss den Ausschus nicht kümmern. Strohm selbst sagt: Es geht um die Sache, "diese ständige Menschenrechtsverletzung, hier, in Deutschland".
Im Einfamilienhaus in Mölln überwuchern Papiere den niedrigen Wohnzimmertisch. Die Stimme ist rau, manchmal dröhnt sie. "Dabei will ich doch immer nur das Gute", sagt Strohm, es klingt fast hilflos. Im Sommer ist er 69 geworden. Er legt die fertig begutachtete, verteidigte und nachpolierte Doktorarbeit auf den Tisch, gebunden in Blau.
Strohm hat die Regeln eingehalten, scheint sie zu verkünden, hat seinen Teil erfüllt - vielleicht mit Ach und Krach. Aber ohne Plagiat, mit ehrlicher Arbeit, und jetzt liegt sie da und wartet nur auf die Freigabe durch den Ausschuss.
Aber die bleibt aus. Es gibt auch keinen Negativbescheid. Der Ausschuss wartet nur ab, vertagt sich, fordert Nachbesserungen am Prüfungsbericht, erhält sie, vertagt sich erneut. Holt nach zweieinhalb Jahren eine Stellungnahme aus Bielefeld ein: Offenbar will der Ausschuss mit der die regulären Gutachten aushebeln und eine Ablehnung begründen.
Das aber wäre ein klarer Angriff aus der Uni selbst auf die Wissenschaftsfreiheit der eigenen Professoren, eine Entmündigung - so weit will man dann doch nicht gehen. Der Promotionsausschuss vertagt sich.
Ämter niedergelegt
"Menschenunwürdig" nennt Falckenberg die Verzögerung. Das ewige Doktorspielchen degradiert den Promovenden zum ohnmächtigen Zuschauer bis, endlich, Doktorvater Johannes Beck und Zweitgutachter Bodo Voigt Anfang 2009 im Zorn die Ämter niederlegen, "weil aus unserer Sicht das Verfahren abgeschlossen ist", so Beck. Strohm hat beim Verwaltungsgericht Klage eingereicht. Das muss noch entscheiden, ob es sie zulässt. Die Bearbeitungszeiten sind lang.
Doktorvater Johannes Beck ist seit 2003 emeritiert. Er hat noch bei Adorno studiert, gehörte vor 40 Jahren zu den Gründern der Bremer Uni. Die "Marx-und-Moritz-Uni" spöttelten viele damals. Wie viele Dissertationen er seit 1971 begleitet hat, kann er nicht sagen, "hundert vielleicht?", eine grobe Schätzung, "ich habe nicht mitgezählt". Nur "so etwas", sagt er über das Strohm-Verfahren, "ist mir noch nie untergekommen".
Was drei Monate nach dem Kolloquium den Promotionsausschuss vom Pfad seiner Ordnung abgebracht hat, ist in Briefen dokumentiert: Sein Mitglied Thomas Kieselbach hat "Holger Strohm" gegoogelt. Woher das plötzliche Interesse an einem seit 2002 laufenden Verfahren?
Er könnte das erklären. Aber über den Verbleib des Psychologen ist nichts bekannt, auch an der Uni nicht: "Der ist im Ruhestand", heißt es. Sein Institut ist aufgelöst. Erreichbar ist er nirgends. Hinterlassen aber hat Professor Kieselbach die Ergebnisse seiner "schnellen Internetrecherche", wie er an Doktorvater Beck schreibt:
Auferstandener Nietzsche
Anstoß genommen hat er daran, dass manche Web-Publizisten Strohm für den auferstandenen Nietzsche halten und "einen der bedeutendsten zeitgenössischen Denker". Und "völlig unseriös" nennt er, dass Strohm in Interviews die gescheiterten Versionen seiner Diss. als akzeptabel darstellt.
Die Gutachter stört das nicht, weder Beck noch Voigt. Aber den Ausschussvorsitzenden, den hat Kieselbach aufgeschreckt. Er teilt dem Doktorvater mit, man müsse um den guten Ruf der Hochschule bangen, wegen jener Dissertation über Lehrergewalt, begutachtet von Gründern dieser Uni. Und eingereicht von einem anfechtbaren Mann.
"Das Lamm", bebt Heinz-Rudolf Kunzes Stimme, "Gottes kann nicht mehr schrein." Das Lied stammt von 1982. Die Widmung lautet: "Für Holger Strohm und sein Buch ,Friedlich in die Katastrophe'". Die "Dokumentation über Atomkraftwerke" war 1981 erneut erschienen, bei Zweitausendeins, 1.292 Seiten stark. Ein Monsterbuch. Ein Bestseller. Es gibt bis heute keinen Argumentationsstrang der Atomkraftkritik, der hier kein Fundament bekäme. "Die Bibel der Anti-Atomkraft-Bewegung" nennt es der Stern.
Messias der Grünen
Wie Kunze huldigen viele Strohm als einem Messias der Grünen-Bewegung. Den Zenit erreicht sein Ruhm schließlich durch eine Kampagne der Deutschen Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf GmbH: In halbseitigen Anzeigen warnt sie vor seinen "Horrorgeschichten", also Vorträgen, in denen er eine "angeblich zu erwartende Atomkatastrophe" ankündigt, wie absurd!
Mehrere Regionalzeitungen drucken die Anzeige ausgerechnet am 26. April 1986 - dem Tag von Tschernobyl. Ein echter Prophet? Das ist das Letzte, was der Staat gebrauchen kann. Haftbefehl wird erlassen - auf Betreiben der Wackersdorf-Gesellschaft, wegen angeblicher Verleumdung. Strohm flieht nach Portugal. Er sagt: Aus Angst um seine Kinder.
Strohms Portugal-Aufenthalt nennt auch Michael Müller (SPD) "ein Exil", der bis 2009 Umweltstaatssekretär im Kabinett Merkel I war. "Holger ist kaltgestellt worden", sagt Müller. Verfolgungen hinterlassen Spuren. Sie deformieren. Partiell ist aus dem scharfsichtigen Kritiker Strohm ein Verschwörungstheoretiker geworden, der ganz sicher weiß, dass die USA den Hunger in Nordkorea durch Wettermanipulation und Aids in Geheimlaboren produzieren.
Quellenkritik ist Strohms Sache nicht. Das bleibt ein großes Manko der Dissertation, schreiben auch die Gutachter. Doch ihr Wert sei, dass sie "das verhängnisvolle Tabu der Lehrergewalt in Frage stellt". Während ihres Entstehens ist das Schweigen brüchig geworden.
Akkurate empirische Befunde liegen vor: "In der Schülerbefragung 2007/08 wurde erstmals auch nach Übergriffen seitens der Lehrer gefragt", heißt es in Christian Pfeiffers "Jugend und Gewalt"-Studie. Erstmals. Volle 34 Jahre nach dem gesetzlichen Prügelverbot.
Ist Leid bezifferbar?
Durch staatlich geprüfte Pädagogen wurden laut Pfeiffer 20 Prozent der Schulpflichtigen im Untersuchungsjahr verbal niedergemacht, 2,5 Prozent geprügelt, 0,5 Prozent mehrmals pro Woche geschlagen. Doch ist Leid denn bezifferbar? Strohm drängt es zum Konkreten.
Seine Dissertation, auf den unerträglichen Geschichten, von der Lehrerin, die mit einem Stuhlbein einem Neunjährigen die Zähne ausschlägt, von Kindern, die der Lehrer zwingt, ihr Erbrochenes aufzuessen, von Prügeln mit Stöcken, mit Schlüsseln, mit Büchern - und vom Ausharren der Behörden. Die Fälle stammen aus der Zeit von 1990 bis 2004. Es geht um die Kinder.
Pfeiffer hat seine Daten 2009 veröffentlicht. Ein Aufschrei blieb aus. Strohms Arbeit setzt an, wo Empirie verstummt. Sie erkundet die Ursachen. Sie reflektiert die Folgen. Sie sucht nach Wegen zu einem Lernen im Einklang mit den Menschenrechten.
"Ein solches Anliegen ist in der Pädagogik und ihrer Forschung nicht nur legitim", formuliert Doktorvater Beck im Gutachten, "sondern geboten." Ein klarer Satz. Ein deutliches Votum. Der Promotionsausschuss hat es längst schon angenommen. Er muss sich nur daran erinnern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!