100 Tage Rot-Schwarz: Das Machtgefüge: Die vierte Oppositionsfraktion
In der vergangenen Wahlperiode muckte die SPD-Fraktion selten gegen die Überfigur Wowereit auf. Unter dem neuen Vorsitzenden Raed Saleh hat sie es binnen Wochen gleich dreimal getan
Grüne, Linkspartei und Piraten: Das ist nominell seit November die Opposition im Abgeordnetenhaus. De facto aber ist da noch eine vierte Oppositionsfraktion, gelegentlich jedenfalls. Denn die SPD tritt in der noch jungen Amtszeit von Rot-Schwarz derart selbstbewusst auf, dass man ihr alles vorhalten kann, nicht aber, bloß den Willen des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit abzunicken. Gleich dreimal binnen weniger Wochen hat die Fraktion sich öffentlichkeitswirksam Senatspositionen widersetzt, 50 Millionen Euro mehr für die Bezirke, die Offenlegung der S-Bahn-Verträge und den Mindestlohn auch für öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen gefordert. In der gesamten vorangegangenen Wahlperiode passierte das nicht viel öfter.
Das neue Machtgefüge zwischen Rotem Rathaus als Regierungszentrale und Abgeordnetenhaus hat viel mit den Führungswechseln im Parlament zu tun. SPD-Fraktionschef ist nicht länger der zum Stadtentwicklungssenator avancierte Parteichef Michael Müller, zwischen den und Wowereit – zumindest nach außen hin – kein Blatt Papier passte. Der neue Vorsitzende Raed Saleh ist vielmehr einer, der Wowereit schon als einfacher Abgeordneter in der Vergangenheit Kontra gab – sei es beim Weiterbau der A100 oder beim Börsengang der GSW 2010. Bei Letzterem hielt Saleh seinen Widerstand nicht durch. „Wir haben uns der Fraktionsmehrheit gebeugt und dem Mist am Ende zugestimmt“, sagte er damals der taz.
Heute ist Salehs Position eine andere, heute hat der 34-Jährige die Fraktionsmehrheit hinter sich – wenn auch beim Mindestlohn nur knapp. Schon bei der Vorsitzwahl empfahl er sich als linkes Korrektiv zu Wowereit. Der war merklich not amused, dass Saleh und nicht Frank Zimmermann Nachfolger seines Gewährsmanns Müller wurde.
„Linke Politik“ mit der CDU
Saleh machte derweil kaum einen Hehl daraus, dass er kein Freund von Rot-Schwarz ist. Aber solle er deshalb fünf Jahre Politik verweigern, fragte er kürzlich am Rande eines SPD-Empfangs rhetorisch? Saleh entschied sich dafür, die Spielräume zu nutzen, die nicht im Koalitionsvertrag festgezurrt sind. Er freue sich, so der Spandauer jüngst im Parlament, auch mit der CDU „linke Politik“ durchzusetzen.
Das zeitweilige Oppositionsverhalten ist allerdings nicht misszuverstehen als grundsätzlicher, idealistischer Anspruch, der Fraktion mehr Geltung zu verschaffen. Salehs Initiativen zielen vielmehr auf einen Machtkampf in der SPD, in der zwar zahlenmäßig die Linken dominieren, bislang aber nur zwei gar nicht so Linke das Sagen haben: Wowereit und Müller. Alles andere als vom Tisch ist zudem die Ankündigung des linken SPD-Kreischefs von Friedrichshain-Kreuzberg, Jan Stöß, beim nächsten Parteitag Müller als Landesvorsitzenden ablösen zu wollen. Dass es vorrangig um ein parteiinternes Machtgerangel geht, zeigt auch Salehs Stoßrichtung: Ziel waren bislang Finanzsenator Ulrich Nußbaum, Müller und Arbeitssenatorin Dilek Kolat, also die SPD-Realo-Riege. An CDU-Senatoren arbeitete Saleh sich nicht ab.
Dass es auf CDU-Seite ruhiger zugeht, bedeutet nicht, dass der ebenfalls neue Fraktionschef Florian Graf nur ein tumber Erfüllungsgehilfe seines Vorgängers und heutigen Innensenators Frank Henkel wäre. Graf, 38 Jahre alt, ist zwar ein ruhigerer Typ als der impulsive Saleh. Und er pflegt eher einen Stil, strittige Themen intern zu regeln. Es sind drei andere Dinge, die SPD und CDU hier unterscheiden: Zum einen sind Graf und Henkel auf einer Linie und gehören nicht wie Wowereit und Saleh unterschiedlichen politischen Lagern an – Henkel war es auch, der Graf 2008 zum parlamentarischen Geschäftsführer machte. Zudem sind in der Union derzeit die Flügel weit weniger stark ausgeprägt als in der SPD: Henkel hat die vor drei Jahren noch tief gespaltene Partei weitgehend geeint.
Und nicht zuletzt ist bei der CDU weiterhin große Erleichterung darüber zu spüren, nach mehr als zehn Jahren endlich wieder mitzuregieren. Wer so fühlt, der opponiert nicht öffentlich gegen die eigenen Senatoren. STEFAN ALBERTI, KONRAD LITSCHKO
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