Kolumne Trends und Demut: Mythen im Orient Express
Was macht Dinge authentisch? Über echten Qualm und falsche Vorstellungen von Afrika.
V or kurzem unterhielt ich mich mit einer Dame, die mich fragte, warum junge Frauen mit „afrikanischer Herkunft“ eigentlich nicht viel öfter Kleider und Gewänder aus diesen knallbunt bedruckten Wachsstoffen tragen würden. Das unterstreiche doch total ihre Identität!
Diese Stoffe sind gar nicht afrikanisch, ließ ich sie wissen. Wie, nicht afrikanisch? Die Stoffe imitieren indonesische Batikmuster und wurden in Holland eigens für den dortigen Markt entworfen. Tatsächlich populär wurden sie dann aber vor allem in Westafrika. Für die Frau, die jahrelang diese festgeformte Meinung von afrikanischer Mode mit sich herumgetragen hatte, brach eine kleine Welt zusammen.
Mich dagegen begann die Frage zu interessieren, was authentisch sei, und ob man Dinge nicht authentisch macht, indem man einfach nur ganz fest und lange an diese glaubt. Die Frage tauchte wenig später wieder auf, als ich unter der Zugbrücke in Brixton entlangging und plötzlich ein Tuten und Rattern hörte, so stolz und tosend, als habe gerade jemand die Dampflokomotive neu erfunden. Ich blickte hoch, und da ratterte tatsächlich ein Zug: mit einer Dampflok, die echten (!) Qualm ausspuckte, und antiquierten Lampen auf den Tischchen im Speisewagen.
ist taz-Kulturkorrespondentin in London.
Außen auf dem Zug prangten zwei Worte, die bei jedem zweiten Briten ein ganzes Feuerwerk an melancholischen Erinnerungen wachrufen: „Orient Express“. Heißt: Abenteuer, heißt: Mord, heißt: Agatha Christie!
Die Vorstellung, dass diese gut gemachte Kopie des legendären Expresszuges mitten durch Brixton auf die alte Art in die Ferne fuhr, fand ich absurd: Unten der One-Pound-Shop neben dem Handyladen, oben auf den Schienen das Zelebrieren antiquierter Bildungsbürgerträume auf Schienen. Wohin die Reise ging? Bestimmt über Paris bis nach Istanbul!
Stereotype Vorstellungen
Meine verklärten Assoziationen wurden von einer Freundin gleich wieder im Keim erstickt. „Die reinste Luxusbutterfahrt einer High-End-Hotelfirma beginnt mit Shopping in London und hört zwei Tage später in Venedig auf.“ Ich dachte an die Dame mit ihren stereotypen Vorstellungen von afrikanischen Stoffen und wie genussvoll ich diese zerschmettert hatte. Nun war ich über meine eigenen peinlichen Klischeebilder der Wirklichkeit gestolpert.
Gestern drückte mir in Brixton ein Aktivist ein Flugblatt in die Hand und lenkte meine Frage nach Authentizität in eine ganz andere Richtung: Über die Schienen, auf denen der falsche „Orient Express“ Mythen bildet, fahren auch Castorzüge vom Atomkraftwerk Dungeness bis zur Wiederaufbereitungsanlage Sellafield.
Das zumindest behaupteten die Atomkraftgegner. Radioaktive Strahlung, vorbeitransportiert an Bürgern, die unter der Brücke ahnungslos ihren Caramel-Latte schlürfen.
Brixtons Schienenverkehr zeigt, wie verkehrt die Welt doch ist. Richtig wäre, wenn der „Orient Express“ ohne Einkaufstour bis Istanbul durchfahren würde und die Info über den Atommüll eine Falschmeldung wäre.
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