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Mit dem Rad in ein Roma-SlumAufgeklärter Armutsporno?

Die ostslowakischen Roma waren sichtlich überfordert mit der Radler-Invasion. Warum die Begegnung auf einer politischen Radreise trotz alledem gelang.

Lunik: Die Plattenbausiedlung am Stadtrand von Kosice wurde in den 60er und 70 Jahren gebaut. Bild: imago/ecomedia/Robert Fishman

„Deutsche Touristen auf Trekking-Bikes begutachten Roma-Slums“, sagte meine Freundin Juliana aus Kosice ins Telefon. „Das hat gerade noch gefehlt.“ Mein Gesicht verzog sich. Kritik hatte ich von ihrer Seite vermutet, aber nicht so schnell. „Ich bin aber Journalist“, hielt ich dagegen, „und ich werde darüber schreiben. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied – oder?“

Hinter dem einwöchigen Trip unter dem Motto „Zwischen Lethargie und Aufbruch, Resignation und Selbstorganisation: Eine politische Radreise in die Heimat der Roma in der Ostslowakei“ steht der Berliner Veranstalter „Politische Radreisen“.

Die Expedition gehört in die immer modischere Rubrik „politischer Tourismus“. Bildungsreisen zu politischen Themen schießen wie Pilze aus dem Boden, gerade solche mit linkem Anstrich. Statt auf Mallorca Cocktails zu schlürfen oder an der Adria an der eigenen Bräune zu arbeiten, besucht man Slums in Honduras oder die Elendshütten der Arbeitsmigranten in Malaysia.

Auch das Angebot der taz zu „Reisen in die Zivilgesellschaft“ hat sich in den letzten Jahren stark vergrößert. Es schließt Reisen zum Ort des Massakers von Srebrenica/Bosnien-Herzegowina, in den vom Krieg gezeichneten Gazastreifen und nach Ruanda („Leben nach dem Völkermord“) ein – alle Reisen unter fachkundiger Leitung der vor Ort stationierten taz-Korrespondenten.

Eine Ein-Mann-Veranstaltung

„Politische Radreisen“ ist eine Einmannveranstaltung. Betreiber ist Thomas Handrich, Politikwissenschaftler und früherer Osteuropareferent der Heinrich-Böll-Stiftung. Der 51-Jährige arbeitet seit Jahren als Berater für eine NGO, die es Roma-Jugendlichen ermöglichen will, ihre Belange selbst in die Hand zu nehmen.

Der einwöchige Ausflug in die Ausläufer der Karpaten kostete jeden der 15 TeilnehmerInnen 800 Euro – ohne Fahrradausleihe. 50 Euro davon gingen als Spende an regionale Roma-Jugendgruppen.

Im Gegensatz zu meiner Freundin Juliana hatte ich zu Reisebeginn das Gefühl, dass diese Expedition politisch korrekt verlaufen könnte, dass dies aber von mehreren Faktoren abhängen würde.

Nur einige Kritikpunkte

Die erste Frage war, ob unsere Reise zu einem voyeuristischen „Armutsporno“ verkommen oder eine wirkliche Begegnung ermöglichen würde. Seit Ende der Reise bin ich überzeugt: Unsere Expedition war gerechtfertigt – mit einigen Einschränkungen, einigen Kritikpunkten.

Vor allem die Motivationen der Teilnehmer beseitigten viele meiner Zweifel. In der heterogenen Gruppe waren ein Mitglied der Linken-Bundestagsfraktion, ein Dozent, der an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule über Antiziganismus forscht, eine Soziologiestudentin, die zum Thema Roma-Migration in Bulgarien und Rumänien arbeitet, eine Pastorin, deren Gemeinde Roma-Flüchtlinge betreut, drei Journalisten, eine 17-jährige Berlinerin mit Roma-Hintergrund und ein Fahrradfan, der sich wenig für Roma interessierte.

Ein Kreuzberger Hausbesetzer erklärte, er wolle sich mit seinen Vorurteilen gegen Roma konfrontieren. Er hatte einen neuen Job als Hausmeister in einem Flüchtlingsheim gefunden, in dem viele Roma leben.

Der Störfaktor: eine große Gruppe

Obwohl niemand in der Gruppe nach billigem Nervenkitzel suchte, erwies sich der erste Besuch in einem Roma-Dorf östlich von Kosice als schwierig. Zusammen mit dem Organisator, den Übersetzern und einer slowakischen Sozialarbeiterin waren wir an die 20 Personen – eindeutig zu viele.

In dem beengten Büro des Bürgermeisters oder dem des lobenswerten NGO-Projekts kamen wir mit unseren Rädern und Helmen in der Hand an wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen.

Eine unüberwindbare Mauer

Die Mauer zwischen „uns“ und „ihnen“ schien mindestens zwei Meter dick. Die ländlichen ostslowakischen Roma waren sichtlich überfordert mit der Invasion der Fremden.

Wer waren diese Leute? Und was wollten sie hier? Ganz offensichtlich waren noch nie so viele Goretex-gekleidete Deutsche in ihre Berufsschule oder ihren Jugendclub eingefallen.

Trotzdem beantworteten die Roma unsere vielen, vielen Fragen nach bestem Wissen und Gewissen. Dabei wurde natürlich viel fotografiert – bis die Deutschen den Ort des Geschehens verließen, ihre Bikes bestiegen und zum nächsten Rendezvous auf der Tagesordnung radelten.

Die meisten Radfahrer begriffen aber, dass dieser Tag eins nicht gut gelaufen war. Eine slowakische Übersetzerin äußerte sehr klar ihr Unbehagen an der Situation. Es folgten Diskussionen, Selbstkritik, Kritik, Selbstkritik – sehr geduldig, sehr gründlich, sehr deutsch.

Fehlende Informationen

Klar wurde, dass vielen Teilnehmern zum Verständnis notwendige Informationen fehlten. Fast alle empfanden die Distanz zwischen uns und den Roma als unangenehm. Irgendwie musste viel mehr Dialog und Sensibilität her.

Der Rest der Reise lief viel besser – mit ein paar Ausnahmen. Die bereits erwähnte slowakische Dolmetscherin weigerte sich, aus ihrer Sicht unangemessene Fragen zu übersetzen. So wollte einer der Journalisten von einem arbeitslosen Rom wissen, was er denn jetzt den ganzen Tag so treibe.

Die Roma selbst schienen wir wenig zu stören. Auf unsere Nachfrage sagten sie, dass sie dankbar dafür seien, dass sich Leute von außerhalb für ihre Lebensumstände interessieren.

Als wir eines Abends, gut abgefüllt mit Bier und Grillwürsten, durch eine der Roma-Siedlungen rollten, applaudierten die Kinder und Jugendlichen wie bei der Tour de France.

Die Gruppe zeigt etwas von sich

Einige Roma-Jugendliche improvisierten eine Tanzaufführung für die Gäste, die Radfahrertruppe revanchierte sich mit einigen Liedern. Zwar blieb unsere Performance weit, weit unter ihrem Niveau – aber wir hatten die passive Rolle zumindest einmal durchbrochen und etwas von uns gezeigt.

Der schwierigste Punkt unserer Reise war der Besuch in Lunik IX. Die heruntergekommene Hochhaussiedlung am Stadtrand von Kosice ist für Roma-Slums, was Manchester für den frühen Industriekapitalismus war.

Lunik IX. ist der größte und düsterste Slum in Zentraleuropa. 9.000 sehr arme Roma leben hier in fensterlosen Plattenbauten. Strom und Zentralheizung wurden vor Jahren abgestellt.

Privatspäre respektieren

In Lunik IX. waren schon so viele Journalisten und Reisegruppen, dass der Stadtteil ein eigenes Infobüro eröffnen könnte, sagte meine Freundin Juliana hämisch. Oder Eintrittskarten verkaufen.

Unsere Gruppe betrat aus Respekt vor der Privatsphäre keinen Wohnblock. Stattdessen besuchten wir die lokale Kindertagesstätte. Wir verließen die Kita mit kleinen handgemachten Geschenken der Kinder. Eines davon ziert jetzt meine Kühlschranktür.

Der Organisator ist dafür zu loben, dass unsere Tour nicht nur zu den Hotspots führte, wie bei typischen Zweitagejournalistenreisen in die Region. Wir trafen Roma aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Lebensbereichen.

Unsere Gesprächspartner nahmen sich Zeit, um uns die soziale Heterogenität der Roma-Gesellschaft zu erklären. Wir sprachen mit verschiedenen Menschen, von Sozialarbeitern bis zu Kulturschaffenden, deren Perspektiven es uns ermöglichten, die kompexe Lebensrealität der Roma besser zu verstehen.

Intellektuelle Besserwisser?

Beim Besuch bei der Vizebürgermeisterin von Kosice wussten wir viel mehr als am Anfang unserer Reise. Genug jedenfalls, um ihr viele unangenehme Fragen stellen zu können. So viele, dass eine der Roma-Aktivistinnen, die uns zu dem Gespräch begleitet hatte, die Bürgermeisterin zu verteidigen begann.

Ihre Roma-NGO arbeitet mit der Politikerin, die gerade neu gewählt wurde, täglich zusammen. Vielleicht schadet unsere geistreiche Intervention, ohne, dass wir das gewollt hätten, mehr, als sie nutzte.

Kleinere Gruppen

Bei einem Pilotprojekt – und das war diese erste politische Radreise zu den Roma in der Ostslowakei – klappt natürlich nicht immer alles. Alle Teilnehmer stimmen zu, dass die nächste Expedition eine bessere Einführung braucht – vor dem ersten Besuch in einer Siedlung oder einem Slum. Und dass die Gruppe kleiner sein sollte.

Auch die Einbettung des Themas in regionale und europäische Politik der vergangenen Jahrzehnten kam – mitten in der EU-Dekade der Roma-Integration – zu kurz.

Zudem müssen das nächste Mal Regeln zum Fotografieren, zu unangenehmen Fragen und der Rolle von Journalisten ganz am Anfang besprochen werden: Sollen Letztere sich benehmen wie auf jeder anderen Journalistenreise? Oder dem gleichen Kodex folgen wie die politischen Touristen?

Vom Touristen zum Multiplikator

Ich empfinde die Reise als Erfolg. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer hat heute ein klareres, vielschichtigeres Bild von den Roma und einem der schwerwiegendsten Probleme Europas, als man es aus allen Medien zusammen beziehen könnte.

Fast jeder hat etwas über Roma erfahren, was ihre oder seine politische oder berufliche Arbeit beeinflussen wird. Wir sind als Touristen losgefahren – und als Multiplikatoren zurückgekommen.

Was heißt das generell für politischen Tourismus? Es kommt darauf an, wie man ihn betreibt. Und wer. Und warum. In jedem Fall sind viele Diskussionen über genau diese Fragen erforderlich.

Übersetzung aus dem Englischen: Rüdiger Rossig

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