piwik no script img

Serie Landkreis XXLDer Balkan nebenan

Die Größe des neuen Kreises Mecklenburgische Seenplatte erschwert die Kommunalpolitik. In nur einem Jahr schmiss jeder elfte Abgeordnete im Kreistag hin.

Ferne, fremde Landschaft: Die Weiten der Mecklenburgischen Seenplatte Bild: Santiago Engelhardt

NEUSTRELITZ/DEMMIN taz | Der Erste machte sich aus dem Staub, da war der Kreistag noch gar nicht zusammengetreten. Der Zweite schaute einmal hinein, bevor er hinschmiss. Der Nächste nahm im Februar 2012 Abschied. Im Laufe des Sommers schlugen sich weitere Kreistagsmitglieder in die Büsche.

Eine neue Arbeit, sagte der eine. Gesundheitliche Probleme hatte der andere. Dem Dritten wuchs das alles über den Kopf. Der Nächste hatte keine Lust mehr. Nach einem Jahr zählte der Kreistagspräsident sieben Abgänge. 7 von 77 Mitgliedern des neuen Kreistages waren abgetaucht, als wäre der Kreistag nicht das Herz der kommunalen Selbstverwaltung, sondern Frondienst.

Im Kornhus in Neustrelitz, das viel mit Backwaren, aber nichts mit Branntwein zu tun hat, gibt es hinten links einen gemütlichen Raum mit lederbezogenen Clubsesseln, Kandelabern und einem mächtigem Bücherregal. Dieser Raum hat etwas Aristokratisches. Er ist Andreas Butzkis Hinterzimmer, hier verabredet er sich. Butzki ist Aussteiger Nummer zwei.

Landkreis XXL

Der Landkreis: Wie verändern demografischer Wandel und schmalere Budgets die Kommunalpolitik? Mecklenburg-Vorpommern hat 2011 als Lösung die Kreise neu geordnet. Der Kreis Mecklenburgische Seenplatte ist seitdem mit 5.496 Quadratkilometern der größte Landkreis Deutschlands.

Die Serie: Die taz begleitet den Kreis ein Jahr lang. Nächste Folge: Berichte vom Ende der Welt - wie die regionalen Medien den Einwohnern den Landkreis erklären.

Am Revers glänzt das Abzeichen von Neustrelitz – ein stilisierter Grundriss der Residenzstadt mit den acht Straßen, die strahlenförmig in alle Richtungen führen. Fast wirkt es wie ein geheimes Emblem. Ein SPD-Abzeichen trägt er nicht. Dabei hat der damals 30-jährige Lehrer 1990 die Sozialdemokratische Partei in der Stadt mit gegründet.

Multiamtsträger Butzki

Butzki stieg auf, wurde Schuldirektor, Parteiarbeiter, Kommunalpolitiker – Stadtvertretung, Fraktionschef, Stadtpräsident, Aufsichtsrat der Wohnungsgesellschaft, Mitglied im Krankenhausbeirat, dazu diverse gemeinnützige Vereine, 2009 kam dann der Sitz im damaligen Kreistag dazu. Seit 1990 haben sich die Ämter und Mandate angehäuft wie bei anderen die Krawatten. Mangelnden Einsatz kann man Butzki nicht vorwerfen.

Im Gegenteil, es waren schließlich zu viele Posten, die Butzki hinschmeißen ließen. Er hat für das Treffen im Kornhus den Neujahrsempfang von Erwin Sellering abgesagt, den der Landesvater zur selben Stunde in Greifswald zelebriert. Die Schlagermusik, die das Ambiente untergräbt, hat Butzki abstellen lassen.

Er überlegt kurz. Als er Schulleiter war, ließen sich Arbeitszeit und Politik noch unter einen Hut bringen, beginnt Butzki, auch das Kreistagsmandat im alten Landkreis war kein Problem. 2011 ließ er sich dann für den neuen, größeren Kreistag aufstellen, außerdem kandidierte er für den Landtag in Schwerin.

Die Sellering-SPD war im Aufwind, Butzki auch. Er räumte in Neustrelitz für die SPD ab, sicherte sich das Landtagsmandat und erklärte noch am Abend, dass er Stadtpräsident von Neustrelitz bleiben wolle.

Versenkt im Großkreis

Und das Kreistagsmandat? „Wenn man ein Amt anstrebt, will man das halbwegs vernünftig machen“, versucht er seinen schnellen Abgang zu erklären. „Dann kam die Fahrerei dazu.“ Halbwegs vernünftig war die Arbeit im Kreistag nicht zu machen. Im Oktober 2011 gibt er sein Mandat nach nur einer Sitzung zurück. Es scheint, als habe er seinen Sitz nur angenommen, um nicht als unstet zu gelten. Ja, er wollte nicht sofort hinschmeißen, räumt er ein. Das wäre nicht der richtige Weg gewesen. Neben seiner Landtagsarbeit will er sich fortan auf die Neustrelitzer Stadtvertretung konzentrieren.

Weil dort keine Reisezeiten anfallen? „Ja, auch.“ Butzki wiegt den Kopf. Doch das war es eigentlich nicht. Die Stadt liege ihm einfach näher. „Ich begleite den Prozess seit 1990“, sagt er etwas umständlich zu seiner politischen Arbeit. Die Stadt ist seine Heimat, auch seine politische. Sofort blüht er auf. Die Stadtwerke seien wirklich gut. Alle Kindergärten sind saniert, die Schulen, fast alle Sporthallen. Die Innenstadt ist restauriert, die Bahnverbindung nach Berlin sei bald ausgebaut, und der Knüller: In der Stadt hat das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt eine Dependance. Von Neustrelitz zu den Sternen.

Butzki singt ein Lied auf die Residenzstadt. Mecklenburg-Strelitz war bis 1919 Herzogtum und dann bis 1934 ein Freistaat im Deutschen Reich mit Sitz und Stimme im Reichsrat, dem heutigen Bundesrat vergleichbar. Das ist das Erbe – und die Kränkung. Ein Freistaat, versenkt im Großkreis, mit einem halben Dutzend Sitzen im Kreistag als Ersatz. Wirklich angemessen ist das nicht.

Beim Spaziergang durch die Stadt läuft Butzki über die Elisabethstraße, verkehrsberuhigt, edles Pflaster, hübsche Läden, Fußgänger grüßen. So mögen einst Staatsminister geschritten sein. Dass heute in ihrer Stadt noch nicht einmal ein Landrat residert, würde sie beleidigen.

Neustrelitz ist riesig

Am Markt hält Butzki inne, hier laufen die acht Straßen zusammen. Butzki breitet die Arme aus, als wollte er das alles segnen. Er wüsste keine deutsche Stadt mit diesem Grundriss. Neustrelitz ist einmalig. Hier Stadtpräsident zu sein, ist eine Lust.

Wer könnte so einen Gesang für den Landkreis anstimmen? Der neue Kreis weckt kein Heimatgefühl. So richtig warm wird keiner. „Siebenundsiebzig Leute! Eh man die alle kennen gelernt hat, auch in der eigenen Fraktion!“ Rainer Tietböhl mag am Telefon einsilbig klingen, in seinem Büro macht er einen geselligen Eindruck. Die Sekretärin müsste jetzt nur noch Bier bringen, stattdessen kredenzt sie Kräutertee.

Ein funktionierender Kreistag scheint in Tietböhls Ausführungen wie ein Stammtisch, wo jeder jedem die Hand drückt und schneller das Du anbietet, als eine Kuh gemolken ist. Der Landwirt aus Demmin ist die Nummer vier der Aussteiger.

Tietböhl bedauert, dass der neue Kreistag geradezu uferlos geworden ist – Tagesordnungspunkte, Vorlagen, Sitzungsdauer, Anfahrtswege und die Schar der Mitglieder. Wenn Tietböhl den alten Kreistag von Demmin schildert, wirkt es, als würde eine versunkene Welt aufleben. Zehn Minuten Fußweg zum Kreistag, die Sitzungen überschaubar und natürlich kannten die Abgeordneten einander wie Nachbarn. Zwar sei es auch nicht immer einfach gewesen, alles unter einen Hut zu bekommen – Tietböhl ist immerhin Bauernpräsident von Mecklenburg-Vorpommern –, aber es ließ sich arrangieren. Wo ein Wille ist, ist ein Weg.

Doch der Wille nimmt mit den Kilometern merklich ab. Tietböhl erklärt es so: „Für mich ist wichtig, dass man einen Bezug hat zum Territorium. Dass man weiß, worum es geht.“ Man müsse die Straße eben kennen, über deren Sanierung der Kreistag abstimmt. „Im alten Kreistag kannte mich jeder, da hat es auch vernünftige Diskussionen gegeben“, fügt er an und seufzt: „Man konnte alles abgrasen.“

Ein Landrat musste vor hundert Jahren mit seinem Gespann seinen Kreis abfahren, die Amtsgeschäfte erledigen und abends wieder daheim am Esstisch sitzen können. Abgrasen eben – die Wiese in jeder Ecke rupfen, jeden Maulwurfshügel kennen und jeden Kuhfladen. Heute ist es eher ein Stochern. „Ich habe keinen Bezug mehr zur westlichen Ecke hinter Röbel.“

Tietböhl deutet mit dem Arm in irgendeine eine ferne Landschaft, als ob’s der Balkan wäre. „Da kann man im Kreistag wenig sinnvolle Diskussionen führen.“ Und es endet ja nicht beim Kreistagsmandat. Es gehe um Sitze im Planungsverband, in Aufsichtsräten, in Ausschüssen. „Wenn ich alle Sitzungen besucht hätte, wäre ich täglich drei Stunden unterwegs“, rechnet Tietböhl zusammen.

Nur noch zwei Bauern

Tietböhl hat im April 2012 hingeschmissen. „Dass das so ein Zeitaufwand ist …“ Es klingt wie eine Kapitulation. „Dazu muss ich so einen Stapel Unterlagen lesen.“ Er beschreibt mit den Händen einen Betonquader. „Ich kann das zeitlich nicht, muss dann aber trotzdem die Hand heben.“ Kreistagssitzungen mit 25 Tagesordnungspunkten oder mehr seien eine Zumutung. Und so verließ Landwirt Rainer Tietböhl den Kreistag. Fortan sind dort nur noch zwei Bauern vertreten – in einem Kreis, der von Landwirtschaft dominiert wird.

„Das tat mir persönlich eigentlich leid“, gibt Tietböhl zu. Man müsse für das „Territorium“ etwas bewegen. Seine Befürchtung: Demmin mit seinen 11.000 Einwohnern hoch oben im Norden des Großkreises könnte übersehen werden – oder überstimmt. 47 Sitze gab es im alten Kreistag, der Landrat saß in der Stadt. Heute sitzt er eine Autostunde entfernt in Neubrandenburg, der Altkreis Demmin hat rund ein Dutzend Sitze im Kreistag. Der Einfluss schwindet, die Energie zur Mitarbeit auch.

Draußen drehen sich träge die Windräder, die Wintersaat ruht unterm Schnee, die Peene fließt so langsam wie Lethe in der Unterwelt dahin. Das Vergessenwerden macht Tietböhl zu schaffen. Überhaupt fehle die Nähe, klagt er. Früher sei der Landrat persönlich vorbeigekommen, wenn es Probleme gab. Heute laufe alles übers Telefon. „Die Menschen wollen doch auch mal was zum Anfassen haben“, ruft er und scheint dabei ein Pferd zu tätscheln. Es klingt wie ein Schamanismus. Monarchien funktionieren so, Wahlkämpfe auch.

Apropos anfassen – ganz versunken ist die Peenestadt noch nicht. Demnächst werden hier Landräte, Schweriner Minister und Honoratioren dutzendweise zusammenkommen, als wär’s eine Nutztierschau. Kreistagsmitglieder natürlich auch. Aber das ist völlig unwichtig. Wichtig ist Angela Merkel, die einmal im Jahr Demmin beehrt und am Politischen Aschermittwoch der CDU Volksreden hält. Das wäre nach Tietböhls Geschmack. Schade, dass er in der SPD ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • F
    Falmine

    Der größte Verlust durch die Kreisreform ist der Verlust an Demokratie! Es regieren nur noch die Hauptamtler, von den ehrenamtlichen Kreistagsabgeordneten weitgehend unkontrolliert. Leider gibt es in den Parteien keine Bestrebungen, die anonymen Riesengebilde zu korrigieren.

  • L
    lounger

    Schöner Artikel! Gut geschrieben und informativ.