piwik no script img

Die WahrheitTabletten, ich hätte gern...

Kolumne
von Arno Frank

...meine Tabletten. Ich habe PASAK. Fiese Sache, das.

I ch habe PASAK. Fiese Sache, das. Wie, kennen Sie nicht? Tja. Hätten Wissenschaftler nicht irgendwann die schlimme Krankheit ADHS entdeckt, würden wir ihre Symptome heute noch der einfachen Hibbeligkeit zuschreiben. Mitfühlende Apothekerinnen verbrächten schlaflose Nächte, weil sie nicht wüssten, welche Tabletten sie ihren händeringend um Abhilfe bittenden Kunden anbieten könnten.

Und was Generationen vor uns für Trödelei gehalten haben, muss seit ein paar Jahren professionell als Prokrastination angesprochen werden – eine Art innerer Rangierbahnhof der Prioritäten, auf dem alle Weichen falsch gestellt sind. Nun habe ich endlich auch an mir Symptome entdeckt, die förmlich nach einem neuen psychosozialen Krankheitsbild krähen.

Alles begann vor einem halben Jahr, als ich auf eine Mail meines besten Freundes nicht, wie üblich, sofort antwortete. Vielleicht war ich gerade hibbelig, vielleicht prokrastinierte ich an diesem Tag, ich weiß nicht mehr. Nach einer Woche hatte ich seine Mail schlechterdings vergessen, und als ich mich nach vier Wochen wieder daran erinnerte, hatte sich in diese Erinnerung schon das grüne Gift des schlechten Gewissens gemischt. Besser, ich wartete noch eine Woche ab, womöglich würde er sich ja von allein bei mir melden.

Nach drei Monaten der Funkstille beschlich mich allein schon beim Gedanken an meinen Freund eine ausgewachsene Scham. Es war die Zeit nicht ereignislos verstrichen, allerlei hätte ich ihm berichten können, allein: Wie sollte ich es anstellen, ohne diesem überfälligen Lebenszeichen meinerseits eine wortreiche Erklärung meiner Saumseligkeit als exkulpierende Präambel voranzustellen? Vor meinem inneren Auge sah ich ihn kopfschüttelnd auf und ab schreiten, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Telefon im Auge behaltend, sich so seine Gedanken machend.

Nach vier Monaten war das, was ich meinem Freund dringlich hätte erzählen wollen, bereits auf das Volumen einer Doktorarbeit angeschwollen. Während ich selbst, um mein rätselhaftes Schweigen wenigstens im Ansatz rechtfertigen zu können, inzwischen mindestens tot sein müsste.

Beim Gedanken an diese fatale Angelegenheit brach mir zuverlässig der kalte Schweiß aus, und irgendwann griff ich zu später Stunde, gut beraten von Freund Alkohol, kurzerhand zum Telefon – und wählte die Nummer meines Freundes. Es klingelte. Einmal, zweimal, drei- … erleichtert legte ich auf. Ich hatte es wenigstens versucht.

Die folgenden Monate verbrachte ich wie im Delirium, an kaum etwas anderes mehr denken könnend als daran, wie mein ehemaliger Freund, inzwischen längst zum Intimfeind gereift, perfide Rachepläne gegen mich schmiedete – bis die erlösende Mail kam, in der er sich für sein „Totstellen“ mit den gleichen guten Gründen rechtfertigte, die ich hätte geltend machen können. Es ist eine neue Krankheit, verdammt. Es handelt sich um eine „Progressive Akkumulation von Schuld aus akuter Kommunikationsinsuffizienz“ (PASAK).

Darf ich jetzt bitte endlich meine Tabletten haben?

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Inlandskorrespondent

1 Kommentar

 / 
  • SB
    Stefan B.

    Sehr schöner Text. Toll geschrieben. :-)