Die Wahrheit: Unter Wohnungssuchern
Taucht doch einmal etwas Mietbares auf dem Markt auf, erscheinen beim Besichtigungstermin 100 Gentrifizierungszombies.
Als Kind wurde ich oft umgezogen. Nicht dass mir irgendjemand ständig meine Kleidung wechselte: „wurde umgezogen“ ist in diesem Fall die passive Version von „bin umgezogen“ im orts- und wohnungswechselnden Sinne. Passiv, weil man als Kind eine Art Möbel ist, das verpackt und mitgenommen wird. Ich zog von Jordanien nach England, von England nach Oberhessen, von Ober- nach Nordhessen, von dort wieder nach London, noch einmal nach Jordanien und dann endgültig nach Deutschland. Und das alles, ohne dass ich „miles“, „more“ oder „Bahnbonuspunkte“ sammeln konnte.
Seit dieser Zeit neige ich zur Sesshaftigkeit. Hätte ich in meiner Aufwachs-Stadt Kassel etwas Vernünftiges studieren können und wären nicht alle meine Freunde nach dem Abitur blitzartig aus der Stadt geflohen, würde ich wahrscheinlich immer noch dort wohnen und mich von Documenta zu Documenta hangeln …
Inzwischen habe ich dreimal die Stadt und viermal die Wohnung gewechselt, was im Zeitalter der verschärften Mobilität immer noch kurz vorm Festwachsen rangieren dürfte. Jetzt aber muss ich gezwungenermaßen doch mal wieder umziehen. Und ich stelle fest, dass das unmöglich ist. Es gibt nämlich keine Wohnungen. Es ist unfassbar: Selbst in einer Stadt wie Hannover gibt es keine Wohnungen!
Und taucht doch einmal etwas Mietbares auf dem Markt auf, erscheinen beim Besichtigungstermin 100 Gentrifizierungszombies, wohlsituierte und geschniegelte Pärchen, wedeln mit ihren Verbeamtungsurkunden oder Mittleren-Management-Arbeitsverträgen, versprechen, alles eigenhändig und umsonst zu sanieren, und reichen ungefragt polizeiliche Führungszeugnisse, Empfehlungen früherer Vermieter, psychologische Gutachten, Bürgschaften der Eltern und mehrseitige Beurteilungen ihrer ehemaligen Grundschullehrerinnen inklusive tippitoppi Kopfnoten ein. Und vor allem sind sie bereit und in der Lage, jede grotesk hohe, fünfsternehotelzimmerpreisähnliche Miete zu zahlen. Gegen die hat man keine Chance. Also was tun? Zelt? Bauwagen? Nach Salzgitter ziehen?
Da man das noch vermeiden möchte, durchsucht man die Wohnungsangebote in der Samstagszeitung, durchforscht das Internet, trägt sich bei jeder Wohnungsgenossenschaft ein, reißt im Supermarkt vorgeschnittene Zettelfähnchen ab, nervt den Bekannten- und Fremdenkreis und kuckt jeden Tag aus Verzweiflung im Fernsehen „Mieten, kaufen, wohnen“.
Dabei kann man sich wenigstens kurz vorstellen, wie es wäre, wenn man sich zwischen zwei (!) Wohnungen entscheiden (!) müsste. Und beide wären groß genug und gut ausgestattet, und die halbaufdringliche Maklerin mit dem mittelcharmanten Ost-Akzent würde zwitschern: „Ich bin mir sicher, dass der Vermieter neues Kirschparkett verlegt und ihnen einen Whirlpool einbaut, aber das Beste haben sie ja noch nicht gesehen, machen Sie mal die Augen zu, wir gehen jetzt auf die 40-Quadratmeter-Dachterrasse.“ Aber Fernsehen ist eben Fernsehen, und Hannover ist Hannover …
Die Wahrheit auf taz.de
Leser*innenkommentare
Stefan
Gast
Danke für diesen schönen Artikel,
ich suche gerade in Hannover eine Wohnung und erlebe genau die im Artikel beschriebenen Punkte ...:-)
Sam Lowry
Gast
Also, ich bin armer Frührentner, bewohne z.Z. nur eine 340-Euro-Villa (inkl. NK), mein über-300-km/h-Fahrzeug steht in der Triple-Garage. Habe meine Ansprüche halt an mein Einkommen (323,74 Euro) angepasst... und vor allem, ich jammere nicht über "die anderen", weil ich es selbst in der Hand habe ;)
ama.dablam
Gast
Hey, wenn da tatsächlich 100 Gentrifizierungszombies auftauchen, die für taz-Klientel wie taz-Journalisten ähnlich abgangaffin wie Glatzen sind, dann bedeutet das, dass von denen 99 die Wohnung NICHT bekommen!! Fette 99% Gentrifizierungszombieopfer!
Also ist doch alles paletti...
Nix zu danken