Aufregung über Falschmeldung: Der fehlende Aufstand
Tausende Social-Media-Nutzer regen sich über die mediale Nichtbeachtung einer tödlichen US-Bombe in Afghanistan auf. Dabei ist die Nachricht elf Jahre alt.
Der Rauch schien nach den Bombenanschlägen von Boston kaum abgezogen zu sein, als sich über diverse Social-Media-Kanäle eine Nachricht binnen Stunden verselbstständigte: dass eine US-Bombe am selben Tag 30 Menschen auf einer afghanischen Hochzeitsfeier getötet habe, werde von den Medien „wieder einmal verschwiegen“, wüteten Tausende via Facebook, Twitter, Google+ und Co.
Offenbar seien amerikanische Opfer wichtiger als afghanische, kritisierten viele; andere echauffierten sich darüber, dass dieser Vorfall – im Gegensatz zum Anschlag von Boston – natürlich nicht als „Terrorismus“ bezeichnet werde. „Wo bleibt der Aufstand?“, fragte ein Twitternutzer. Schon bald machte auch eine der unvermeidlichen Obama-Friedensnobelpreis-Bildmontagen die Runde.
Wer die Afghanistanberichterstattung halbwegs verfolgt, dem wird die Meldung vom Angriff auf die Hochzeitsfeier bekannt vorkommen – man muss allerdings tief im Gedächtnis graben: Den besagten Bombenangriff mit einer entsprechenden Zahl an Opfern hat es tatsächlich gegeben, allerdings bereits vor elf Jahren.
Ursprung der sich nun rasant verbreitenden Nachricht scheint ein Onlineartikel der britischen Daily Mail zu sein, auf den sich die meisten Posts und Tweets bezogen, dessen Erstellungsdatum auf der Website allerdings korrekt mit dem 1. Juli 2002 angegeben wird.
Die Uraltmeldung als „Breaking News“
Doch das fiel offenbar kaum jemandem auf. Der Link wurde fleißig geliket, geteilt, empfohlen und retweetet. Das Thema durchwanderte auch Foren und eine Anzahl privater Blogs, die die Uraltmeldung als „Breaking News“ übernahmen. Zwischenzeitlich hatte sich die Zahl der Opfer gar vervierfacht, nachdem jemand eine entsprechend hoch gegriffene Meldung über denselben Bombenangriff auf einer anderen, eher obskuren Website ausgegraben hatte.
Zwar wurde auch dort das korrekte Datum, 2002, angegeben – aber offensichtlich hatten nur die wenigsten tatsächlich gelesen, was sie da weiterverbreiteten; die Beschäftigung mit der Nachricht erschöpfte sich zumeist auf den Klick auf „Retweet“ oder „Teilen“. Am Dienstag wurde die Nichtmeldung im Minutentakt getwittert. Bis Sonntag ging es in zwar niedrigerer Frequenz, aber dennoch munter weiter.
An die Stelle der meistverlinkten Quelle rückte zum Wochenende hin allerdings ein Artikel des World Observer Online, einem impressumsfreien Blog, der sich äußerlich nachrichtlich-seriös gibt, inhaltlich allerdings nur die Nachricht der Daily Mail wortgleich übernommen, ein Bild hinzugefügt und das Ganze mit dem Datum des 17. April 2013 versehen hat.
Auf Twitter sorgte das dennoch für einen neuen Schwung an entsprechenden Meldungen und Meinungen. Erst spät waren am Dienstagabend zwischen den Falschmeldungen auch vereinzelt Hinweise auf das Alter der Afghanistan-Nachricht aufgetaucht, die in der Masse allerdings eher untergingen.
Einfangversuche zwecklos
Eine Nutzerin, deren Tweet über den Anschlag mehr als 400-mal weitergereicht wurde, versuchte, ihre eigene Mitteilung zur vermeintlich aktuellen Attacke in Afghanistan wieder einzufangen.
Sie hatte ihren Fehler noch am selben Tag mehrfach eingeräumt und um Entschuldigung gebeten – nur bekamen das mangels Weiterverteilung lediglich noch ihre Follower mit. Ihre Falschmeldung verbreitet sich weiter unkontrolliert.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Bundesregierung und Trump
Transatlantische Freundschaft ade
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
ifo-Studie zu Kriminalitätsfaktoren
Migration allein macht niemanden kriminell