piwik no script img

Datenschutzbeauftragte hat viele FragenDigitaler Voyeurismus

Die Piratenpartei beklagt Massenauswertung von Handydaten in Schleswig-Holstein. Landesregierung versichert, alles sei „rechtlich in Ordnung“.

Viel zu tun für die schleswig-holsteinischen Ermittlungsbehörden: Mobilfunk-Sendemasten auf einem Hochhaus am Kieler Blücherplatz. Bild: dpa

HAMBURG taz | Die schleswig-holsteinische Polizei hat jahrelang massenhaft Verbindungs- und Standortdaten von Handynutzern erfasst. Das geht aus einer am Donnerstag veröffentlichten Antwort auf eine große Anfrage der schleswig-holsteinischen Piratenpartei hervor. Danach gab es von 2009 bis 2012 exakt 850 von der Staatsanwaltschaft angeordnete Funkzellenabfragen.

Nach Berechnungen der Piratenpartei wurden dabei seit 2009 insgesamt rund sieben Millionen Handys und andere Mobilfunkgeräte geortet und ihre Verbindungsdaten ausgewertet. „Statistisch gesehen war danach jeder Schleswig-Holsteiner schon mehrfach im Visier der Ermittler“, sagt der Landtagsabgeordnete der Piratenpartei, Uli König: „Wer zur falschen Zeit am falschen Ort war, kann leicht zu Unrecht einer Straftat verdächtigt werden.“

Das Ausmaß der Handyabfragen – auch das belegt die Antwort – nimmt von Jahr zu Jahr zu, Großeinsätze mehren sich. 2012 wurde etwa ein Bereich im Bezirk Kiel einen ganzen Monat lang dauerüberwacht. 2010 waren im selben Kieler Bezirk bereits innerhalb von 24 Stunden 2,3 Millionen Verbindungs- und Standortdaten von 300.000 Menschen erfasst worden.

Katharina Nocun, Politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland, spricht deshalb von einer „Massendurchleuchtung“. Es sei „völlig unverhältnismäßig ins Blaue hinein, eine Kompletterfassung aller Handybenutzer im Umkreis eines Tatorts vorzunehmen“.

Funkzellenabfragen

Die Funkzellenabfrage (FZA) ist eine verdeckte Ermittlungsmaßnahme zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten, die richterlich genehmigt werden muss.

Die Behörden fragen dabei bei den Providern Telekommunikationsdaten ab, die in einer bestimmten Funkzelle in einem festgelegten Zeitraum anfielen.

Zur Aufdeckung von Serienstraftaten gelten die Abfragen als besonders geeignet, da sie darlegen, welche Mobilfunkgeräte sich bei verschiedenen Straftaten jeweils in Tatortnähe befanden.

Nach Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft, auf denen die Antwort beruht, haben die 850 Abfragen nur zu 36 Verurteilungen beigetragen. In gerade mal 64 Fällen führte die Funkzellenabfrage überhaupt zu weiteren Ermittlungsmaßnahmen. Das bedeutet: 786 der 850 Funkzellenabfragen liefen ins Leere.

Bei der stellvertretenden schleswig-holsteinischen Datenschutzbeauftragten Marit Hansen löst die Antwort der Landesregierung einen „hohen Nachfragebedarf“ aus. Eine „abschließende Stellungnahme“ sei ihr aufgrund der bisherigen Faktenlage zwar „noch nicht möglich“, aber die „sehr, sehr großen“ Abfragezahlen würden auf eine „exzessive Ermittlungstätigkeit“ an diesem Punkt hindeuten.

Nach den Angaben der Landesregierung bleiben die abgefischten Daten der Handynutzer oft jahrelang gespeichert. Diese Antwort lege nahe, dass die Löschung der erhobenen Daten mitunter „ein bisschen verpennt“ wird, sagt Hansen. Die eingeräumte Zeitspanne der Datenspeicherung von bis zu 42 Monaten sei „extrem lang“.

Zudem sei die Funkzellenabfrage offensichtlich „zum Standardinstrument der polizeilichen Ermittlungsarbeit“ geworden, was nicht unproblematisch sei. Hansen sagt: „In diesem Netz bleiben viele Handy-Nutzer hängen, die mit den verfolgten Straftaten überhaupt nichts zu tun haben.“

Informiert wurden die Betroffenen über die Überwachung in aller Regel nicht. Das aber „sollte in einem Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit sein“, findet Uli König von der Piratenfraktion.

„Die Kritik ist unberechtigt. Funkzellenabfragen sind rechtlich erlaubt. Sie werden von der Staatsanwaltschaft angeordnet und von einem Richter genehmigt. Mehr rechtsstaatliche Sicherung geht nicht“, teilte das Kieler Innenministerium mit. Auch die Behauptung „Aufwand“ und „Ertrag“ stünden in keinem angemessenen Verhältnis sei „Unfug“. Kriminalitätsbekämpfung könne „man nicht nach betriebswirtschaftlichen Kriterien betreiben“.

Solange in einem Verfahren kein rechtskräftiges Urteil gesprochen wurde, die Wiederaufnahme von Ermittlungen jedoch möglich sei, könnten beweisrelevante Daten auch nicht gelöscht werden. „Das ist rechtlich in Ordnung und nicht zu kritisieren“, sagt Ministeriumssprecher Thomas Giebeler.

Schon in der Vergangenheit sorgten Funkzellenabfragen für politischen Zündstoff. So musste im Juni 2011 der Dresdener Polizeipräsident Dieter Hanitsch seinen Hut nehmen, weil er die Verantwortung für eine Funkzellenabfrage trug, bei der hunderttausende Verbindungsdaten von Teilnehmern einer Antifa-Demonstration und vielen Unbeteiligten, darunter auch Journalisten, ausgewertet wurden.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • FJ
    Frederik Jensen-Höck

    Die Polizei in Schleswig-Holstein stellt sich mit dreisten ungesetzlichen Aktionen wie dieser ein ums andere Mal erfolgreich über das Gesetz, ohne das irgendein verantwortlicher Politiker - gleich welcher Regierungspartei - endlich ein für alle Mal massregelnd eingreift.

    Das tun bestenfalls noch Bundesrichter auf Initiative der regionalen Datenschutzbeauftragten. Bis dahin sind die schuldigen Polizeiführer längst in einer anderen Kaserne und putzen weiterhin ihren goldenen Stahlhelm.

     

    'Das Scheitern der Demokratie im ländlichen Raum', einst von Autor Gerhard Hoch auf die historische Phase 1870-1933 datiert, setzt sich nach 1945 schnurgerade bis weit ins 21. Jahrhundert fort. Auch und besonders unter herrschenden Figuren der 150-jährigen, ehemals fundamentaloppositionellen SPD.

  • B
    Bernhard

    „Das ist rechtlich in Ordnung und nicht zu kritisieren“, sagt Ministeriumssprecher Thomas Giebeler.

    Es darf also nun nicht einmal mehr kritisiert werden. Es ist genau wie in der NSA-Affäre: "Alles ist in Ordnung - alles Rechtstaatlich" http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-08/friedrich-nsa-affaere

    Nun kommt raus: Doch nicht: http://www.washingtonpost.com/world/national-security/nsa-broke-privacy-rules-thousands-of-times-per-year-audit-finds/2013/08/15/3310e554-05ca-11e3-a07f-49ddc7417125_story.html

     

    Wer konnte das ahnen? Polizei tut etwas illegales. Das gibt es nicht. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf!

    http://theomix.wordpress.com/2009/02/14/weil-nicht-sein-kann-was-nicht-sein-darf/