Ostsee-Kunst: Verstecktes drängt ans Licht

Mal erzählerisch, mal konzepthaft: 15 Künstler aus Ländern rund um die Ostsee stellen in Kiel. Aber wo sind die Russen?

Comicland Schweden: Ein Detail aus Richard Johanssons "They Always Come Back" aus dem Jahr 2009. Bild: Stadtgalerie Kiel

KIEL taz | Da hängen sie gefesselt und baumeln im Wind: Zwerge, in Lederhosen und mit Zipfelmütze. Richtig unglücklich sehen sie nicht aus, eher duldsam. Als sei das Leben etwas, das einem zwar übel mitspielt, das man aber mit einer gewissen stoischen Gelassenheit zu nehmen hat. In ihrer beeindruckenden Kraft sind die Zeichnungen des Norwegers Andreas Tellefsen einer der Höhepunkte unter den neuen künstlerischen Positionen aus dem Ostseeraum, die erklärtermaßen die Ausstellung „Baltic Sea Record“ in Kiel versammelt.

Beim ersten, naturgemäß flüchtigen Rundgang fällt auf: Die Kunst zwischen Kopenhagen, Oslo und Helsinki switcht recht behände zwischen Erzählerischem und eher Distanziert-Konzeptionellem. Ist die eine Arbeit entschieden auf ein Zwiegespräch mit dem Besucher angelegt, tritt die andere ihm wieder schweigsam gegenüber. Wobei: Aus den hier gezeigten 15 Ausstellenden eine allgemeingültige Einschätzung der Kunstszene der Ostseeregion ableiten zu wollen, das wäre kühn.

Unklar bleibt für den Besucher, warum niemand aus Polen und Russland, aber eben auch nicht aus Deutschland in der Ausstellung gezeigt wird. Beiträge aus Estland und Lettland fehlen, dafür ist Litauen durch MK Kähne vertreten – der wiederum seit Langem in Berlin lebt.

Sieg des Neoliberalismus

Seine Arbeit lässt sich beinahe schon zu eindeutig als Kommentar zum Siegeszug des Neoliberalismus lesen, der nicht zuletzt in den Kulturszenen des postsowjetischen Baltikums schwere Verwüstungen ausgelöst hat. Auf der Jagd nach Erfolg und Geld setzte sich da ein hypermoderner Lebensstil durch, denkbar anders als die frühere, verordnete Gemächlichkeit, der ganz nebenbei die öffentliche Kunstförderung zum Erliegen brachte.

Darauf antwortet MK Kähne nun mit einer irritierenden Installation: eine „Suitcase Kitchen“ aus glänzendem Kunststoff und Chrom. Jeder Zentimeter ist genutzt, nichts fehlt, weder der Kaffeeautomat noch Rot- und Weißweingläser oder die Saftpresse. Wo Tasse und Teller zu stehen haben, ist vorgeschrieben, für persönlichen Krimskrams, der Küchen prägt und sie wirtlich macht, gibt es dagegen keinen Platz. Und mit wenigen Handgriffen lässt sich diese Küche für Kinderlose, Berufstätige, Ungebundene zusammenlegen und wie ein Koffer zum nächsten Ort transportieren.

Natürlich soll das Ding ausdrücklich Kunst bleiben und nicht benutzbarer Alltagsgegenstand werden. Eine Spur Brötchenkrümel nur, ein Eiklecks, ein unachtsam ausgeführter Messerschnitt auf der hochglanzpolierten Oberfläche – alle demonstrative Herrlichkeit wäre für immer dahin. Ein ausliegender Katalog zeigt: Der Künstler macht nur sowas! Sitzgruppen, Küchenzeilen, Wohnungselemente, allesamt so perfekt durchgeplant, wie sie unbenutzbar wirken.

Einen offensiven Gegenpol zu Kähnes glatter, überaus polierter Bestandsaufnahme bildet die Arbeit „They never come back“ von Richard Johansson, die einen in Kiel gleich am Eingang empfängt: Auf einer großen, aufgebockten Fläche breitet sich Johanssons Heimatland Schweden als Puppen- und Comicland aus. Ein dreirädriges Gefährt bietet Hot Dogs, aber auch Döner an, grüne Waldgeister bevölkern das Land, kahlköpfige Neonazis machen Jagd auf Fremde, und im Schloss, das sich am Ende des Reiches erhebt, haben König Carl Gustav und Königin Silvia Sex, dass sich die Birken biegen.

Entlarvung als Bedürfnis

Da ist also einiges schräg im Staate Schweden, und es drängt ans Licht, was sonst versteckt bleiben soll. Davon zu erzählen, auch wenn die Entlarvung des angeblichen schwedischen Wohlfahrtsidylls heute jeden Krimi prägt, muss noch immer ein tiefes Bedürfnis der dort Lebenden sein.

Dagegen wirken andere der Arbeiten unnahbarer, brauchen entsprechend je ein wenig Zeit – interessanterweise besonders jene der dänischen Beteiligten: Ruth Campau hat aus silbrigen Folienstreifen eine Spiegellandschaft gefertigt, Pernille With Madsen lässt in ihrer dreiteiligen Videoarbeit „Serielle Choreografie“ auf einer Art Tennisplatz merkwürdige Tänze aufführen, und der Maler Christoffer Munch Andersen hat mit Senf und Ketchup beschmierte Pappen oder die Unterseiten von dänischen Milchtüten auf Leinwände übertragen: Er spielt mit dem Reiz des Vergrößerns ebenso wie er uns auf die oft unbeachtete Ästhetik von Alltagsgegenständen hinweist.

Apropos Alltag: In die Höhe schauen sollte man, wenn es langsam wieder Richtung Ausgang geht: Michael Johanssons Spezialität ist es, Nischen, Vorsprünge oder Hohlräume in Ausstellungsräumen so mit vorgefundenen Materialien aufzufüllen, dass nichts übersteht und nichts herausragt. Eine listige Entsprechung zu MK Kähnes obercooler Zweckmäßigkeit.

Geradezu ergriffen berichten einem die Mitarbeiter der Kieler Stadtgalerie, dass Johansson sich in vollendeter Ruhe in ihren Büros und Abstellräumen, in den Regalen und Schränken umgeschaut habe, bis er nach und nach dieses und jenes und auch anderes zusammentrug – Putzschwämme, Kartons, eine Bohrmaschine – und sich langsam an die Arbeit machte.

Erst in der aber auch wirklich allerletzten Minute sei seine Arbeit fertiggeworden. Diese gespeicherte Gelassenheit bei gleichzeitiger Präzision ist „Tetris – Stadtgalerie Kiel 2013“ betitelt, und sie wird sich auflösen, wenn die Ausstellung schließt und abgebaut wird.

„Baltic Sea Record 2013. Kunst aus dem Ostseeraum“: bis 15. September, Stadtgalerie Kiel

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.