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Selbsthilfe eines MissbrauchsopfersDie Sprachlosigkeit beenden

Angelika Oetken war als Kind Opfer sexueller Gewalt, heute ist sie Kämpferin für Betroffenenrechte. Ihr Engagement erlebt sie als Rehabilitation.

„Ich akzeptiere den Missbrauch als Teil meines Lebens", sagt Oetken. Bild: Julia Baier

Nach Feierabend schreibt Angelika Oetken Onlinekommentare. „Ich bin ehrenamtliche Foristin“, sagt die 49-Jährige über sich. Auf den Internetseiten von Zeitungen und in Ratgeber- und Betroffenenportalen kommentiert sie Artikel zum Thema sexueller Missbrauch. An manchen Abenden sitzt sie drei Stunden am Schreibtisch, manchmal schreibt sie nur eine Rundmail an andere Betroffene, mit denen sie in einem losen Netzwerk organisiert ist. „Alle sind betroffen“, lautet das Motto der Gruppe.

Um deutlich zu machen, dass ihr Schicksal alle angeht, unterschreibt Oetken stets mit den Worten: „Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von über 7 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland, die in ihrer Kindheit Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden“.

Als vierjähriges Mädchen wurde Oetken sexuell missbraucht, von einem Bekannten der Eltern. Auch ihr Bruder wurde Opfer des Mannes, vermutet sie, vielleicht auch die anderen Geschwister. Niemand aus der Familie spricht darüber, bis heute. Sie entschied sich, die Sprachlosigkeit zu beenden. Seitdem redet sie. Online, aber auch auf Seminaren und bei öffentlichen Anhörungen. Sie setzt das eigene Erlebte in Beziehung zu wissenschaftlichen Studien und politischen Forderungen. Sie hat sich entschieden, sichtbar zu werden, zu kämpfen. „Ich akzeptiere den Missbrauch als Teil meines Lebens.“ Das mache sie zufriedener, als um jeden Preis ein „normales“ Leben führen zu wollen.

In ihrer Praxis in Berlin-Köpenick serviert die hauptberufliche Ergotherapeutin Kaffee und Teilchen. Sie sieht jünger aus, das schwarze Haar kurz geschnitten, offenes Lächeln. Sie erzählt, wie die vielen Zeitungsartikel über das Berliner Canisius-Kolleg und die hessische Odenwaldschule sie elektrisierten: „Als das Thema Missbrauch hohe Wellen schlug, hatten Artikel bis zu 10.000 Klicks. Was für eine Aufmerksamkeit!“ Oetken beschloss, das Interesse zu nutzen.

Sie stellte richtig, was sie ärgerte, verlinkte zu Informationen, die sie interessant fand, tauschte sich mit anderen Missbrauchsopfern aus, die sich plötzlich zu Wort meldeten. Es dauerte nicht lange, da war sie Teil eines Netzwerks von Menschen, die von Nonnen drangsaliert, von Pfarrern und Lehrern befummelt, von Pädagogen vergewaltigt worden waren. Manche sprachen zum ersten Mal darüber, andere waren seit Jahren in Betroffenenorganisationen involviert. Auch Angehörige und Therapeuten waren darunter.

Aufmerksamkeit nutzen

Das „sexualisierte Misshandlung – Betroffenenteam“ hat nach ihren Angaben rund 20 Mitglieder, mit Kontakt zu geschätzten 1.500 Betroffenen, die anonym bleiben wollen. Das klingt viel. Wenn man bedenkt, dass in Deutschland Studien zufolge ungefähr 9 Millionen Erwachsene Opfer von schwerem Missbrauch sind, ist es erst ein Anfang. Über Rundmails steht man in Austausch, spielt sich die Bälle zu: Wer kennt sich im Selbsthilfebereich aus, wer kennt diesen Wissenschaftler, jenes Buch?

Immer wieder sehen sich die Betroffenen auch mit Unterwanderungsversuchen von Nazis konfrontiert: „Die Rechten versuchen, das Thema für sich zu besetzen“, sagt Oetken. „Das deutsche Blut, das blonde Mädchen – dabei haben sie zu Hause oft selber den Täter an der Kaffeetafel sitzen.“ Unter Nazis gebe es überdurchschnittlich viele Betroffene, die das Erlittene durch Aggression und Männlichkeitsgehabe abzuwehren versuchten. Täter an der Kaffeetafel.

Auch Pädosexuelle fühlten sich vom Thema angezogen. Oetken hält sie aus dem Netzwerk fern, spricht aber mit ihnen, wenn sie Kontakt zu ihr suchen: „Das sind schwer kranke Menschen, als Therapeutin sollte ich mich mit denen vernünftig auseinandersetzen können.“ Oetken hat sich einen Panzer aus Wissen zugelegt, ihr eigenes Erleben in einen Wissensvorsprung verwandelt. „Ich erlebe mein Engagement als psychosoziale Rehabilitation der Vierjährigen, die ich einmal war“, sagt sie. „Jetzt bin ich kompetent und mächtig genug, um mich mit Stärkeren anzulegen.“

Aktivistin in eigener Sache

Im Schutz der Internet-Anonymität sammelt das Netzwerk Informationen über Missbrauchsfälle, gibt sie weiter an den Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Einige Mitglieder, wie Oetken selbst, nahmen am Runden Tisch Kindesmissbrauch teil, diskutierten über die Verlängerung von Verjährungsfristen und Entschädigungsforderungen. Die Aktivisten arbeiten daran, dass das Amt des Beauftragten mehr politische Entscheidungsbefugnis und einen Betroffenenbeirat bekommt.

Angelika Oetken ist noch nicht lange Aktivistin in eigener Sache. In ihren Dreißigern outete sich die gebürtige Oldenburgerin im Privaten, vor drei Jahren dann auch vor Kollegen. „Das war nicht ohne, denn ich bin in einem Gewerbe unterwegs, in dem man kein Opfer sein darf.“ Es war dann weniger schlimm als erwartet: Kollegen bewunderten ihren Mut, die Befürchtung, fortan nicht mehr ernst genommen zu werden, bestätigte sich nicht.

Im Gegenteil: „Ich fühle mich seitdem noch stärker.“ Statistisch gesehen hat jeder achte Mensch sexualisierte Gewalt erlebt, doch nur wenige, wie die Grünen-Politikerin Marieluise Beck, trauten sich, damit offen umzugehen. Oetken findet das schade. Oft, erzählt sie, blicke sie auf Veranstaltungen in angespannte Gesichter, spüre bei Kollegen und Patienten unterdrücktes Leid: „Missbrauch ist tief verwurzelt in unserer Kultur. Wenn man bewusst hinsieht, entdeckt man überall Symptome“.

Ignorierte Hilfesignale

In Angelika Oetkens Kindheit nahm niemand die Auffälligkeiten ernst, die das Mädchen schon im Kindergartenalter zeigte: Exzessives Nägelkauen, Aggressionen gegen sich und andere, Einnässen. Das zuvor kontaktfreudige Kind zog sich zurück, versteckte sich, wenn Fremde kamen. Die Eltern ignorierten die Hilfesignale. Auch in der Schule ging man den Auffälligkeiten nicht nach, Angelika funktionierte, schrieb gute Noten. „Es gab niemanden, der reagierte. Das war vielleicht sogar mein Glück: In der Psychiatrie hätte man mich nach damaliger Auffassung wohl für sexuell deviant erklärt“, berichtet sie.

Wut auf ihre Eltern empfindet Oetken heute nicht, wohl aber auf das gesellschaftliche Klima, in dem sie aufwuchs: „Die allgemeine Fahrlässigkeit und Ignoranz erschüttert mich noch heute“, sagt sie. Sie findet es wichtig, all das aufzuarbeiten, was ein wohlwollendes Umfeld für Täter wie den ihren schuf: Wissenschaftler, die Pädophilie schönredeten, Politiker, die „befreite Kindersexualität“ forderten, Psychologen, die Kindern Schuld am Erlittenen gaben.

Hoffnung setzt Angelika Oetken in Franz Walter, den Wissenschaftler, der Verfehlungen im linksalternativen Milieu der 70er und 80er Jahre untersucht. Und in noch mehr Medienberichterstattung, die in ihren Augen bereits eine wichtige Einsicht verbreitete: „Missbrauch kann jeden treffen. Er findet überall dort günstige Bedingungen, wo statt Solidarität Korruption herrscht.“

Geschlossene Systeme

Was sie damit meint? Angelika Oetken stellt die Tasse ab, lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und breitet dann ihre, über die Jahre entwickelte Theorie aus: Sie spricht von geschlossenen Systemen, die zusammengehalten werden von etwas, das sie „Begleit- und Beschaffungskriminalität“ nennt. Korruption und Missbrauch gingen Hand in Hand. Wer im Zwischenmenschlichen Grenzen überschreite, tue das auch in anderen Bereichen.

Oetken entwirft in ruhigem Ton ein Panorama von lüsternen Priestern, übergriffigen Reformpädagogen, brutalen Onkeln, die gleichzeitig halblegale Geschäfte, kollegiales Fehlverhalten oder außereheliche Verhältnisse deckten – und dafür ihrerseits gedeckt würden. „Wenn alle miteinander in einen Klüngel verstrickt sind, wird es extrem schwer für Einzelne, aus dem System auszusteigen – so bleiben Missbrauchsstrukturen über Jahre hinweg erhalten.“

Was erhofft sich Angelika Oetken vom öffentlichen Reden über sexuellen Missbrauch? Sie denkt kurz nach, sagt dann: „An der Situation hat sich wenig geändert: Noch immer muss ein Kind im Schnitt acht Erwachsene um Hilfe bitten, bevor man ihm hilft. Aber die Sensibilität ist größer geworden. Heute könnte man jemanden überzeugen, einem Kind wie mir zu helfen.“

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25 Kommentare

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  • @Regenwetter

    einspruch. das thema/die erfahrung ist nicht fundamentale machtlosigkeit, sondern: ambivalenz und das pendeln zwischen all- und ohnmacht.

    so weit ich das vergnügen hatte, frau Oetken im www zu begegnen ist mein eindruck der, dass sie dem thema ambivalenz (und ambiguitätstoleranz) aus dem wege geht. und statt dessen lieber pädosexuelle in allen formen und farben und bis in die beiräte irgendwelcher organisationen jagt.

    ich finde das immer wieder sehr schade, denn so setzt sich gewalt in beziehungsgefügen bewußtlos fort.

    • @christine rölke-sommer:

      ich gehöre zu der Minderheit von Opfern sexuellen Missbrauchs die eine ganz eindeutige Beziehung zu ihrem Täter haben, nämlich eine eindeutig negative. Insofern bin durch keinerlei Ambivalenz belastet. Eine Identifikation mit dem Aggressor musste ich deshalb auch nie bearbeiten. Worüber ich froh bin, denn das ist hart.

      Ich empfinde für Pädosexuelle durchaus Mitgefühl so wie für alle anderen Menschen die krank und/oder in einer ausweglos erscheinenden Lage stecken auch.

      Allerdings bin ich davon überzeugt, dass jeder zurechnungsfähige Erwachsene selbst entscheiden kann, ob er Kinder missbraucht oder nicht. Und folglich falls er Übergriffe begeht, dafür die volle Verantwortung übernimmt.

      Sollten Täter dazu nicht in der Lage sein, dann gehören sie nach meinem Dafürhalten unter gesetzliche Betreuung. Dann wären sie nämlich unzurechnungsfähig.

       

      MfG,

      Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

      • @Angelika Oetken:

        dieser satz

        "Ihr Engagement erlebt sie als Rehabilitation." steht für das problem. auch das der engagierten.

        wieso "Rehabilitation"?

        hat sie irgendwas getan, das der rehabilitation bedarf?

        als mir rotzlöffel am hellichten tag mit einem stock in der vagina rumbohrten, hatte ich nichts verwerfliches getan: ich, das kind aus dem flüchtlingslager, war eine dorfstraße langgegangen.

        als der nachbar mich im fahrradkeller meinte abknutschen zu müssen, hatte ich nichts verwerfliches getan: ich hatte mein fahrrad abgestellt.

        und so weiter und so weiter. ich hatte nichts weiter getan außer da zu sein. und - in meinem fall -irgendwie weiblich (das auch noch!).

        der rehabilitation - oder auch, vielleicht besser re/sozialisierung - hätten die rotzlöffel, der nachbar, und noch etliche andere bedurft!

         

        wenn das mal klar ist, dann kann ich mich allerdings und in der tat mit der ambivalenz beschäftigen. ohne mich davor zu fürchten, von einem stockholm-syndrom befallen zu werden. denn ich kann ein tun verurteilen, ohne einen menschen zu verdammen oder unter kuratel stellen zu müssen.

        • @christine rölke-sommer:

          Ich stimme mit Ihnen überein: ein Missbrauchsopfer hat sich für Gewöhnlich nichts zu Schulden kommen lassen. Es hat auch von Seiten seiner Umwelt nichts zu befürchten, so lange es sich an die bislang üblichen Spielregeln hält. Also weder über den Missbrauch spricht, noch irgendetwas von Anderen einfordert.

          Mit den Opfern mit denen ich mich austausche habe ich etwas gemeinsam: wir haben uns dafür entschieden das Unrecht was uns geschehen ist klar zu benennen. Genauso wie die dafür Verantwortlichen.

          Und deshalb haben wir die typischen Erfahrungen von Menschen gemacht, die Tabus brechen. Wir erfuhren Verrat, unsere Bemühungen Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu erlangen wurden regelrecht sabotiert.

          Uns allen ist im Laufe der Aufarbeitung klar geworden, dass diese Reaktionen unserer Mitmenschen wenig mit uns persönlich, aber sehr viel mit deren unzureichender Angstbewältigung zu tun haben.

          Und in diesem Sinne ist eine Rehabilitation bzw. Resozialisierung notwendig. Sozusagen als Selbstbefähigungsprozeß.

           

          MfG,

          Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

          • @Angelika Oetken:

            "für gewöhnlich" - auch da wieder: zumindest sprachliche/begriffliche schlamperei. gibt es denn opfer, die sich ungewöhnlich doch was zu schulden haben kommen lassen?

            • @christine rölke-sommer:

              "Schlamperei": nein. Ich habe mich bewusst so ausgedrückt.

               

              "Ich stimme mit Ihnen überein: ein Missbrauchsopfer hat sich für Gewöhnlich nichts zu Schulden kommen lassen."

               

              Schuldgefühle im Opfer zu erzeugen ist eine verbreitete Täterstrategie. Einige dieser Verbrecher gehen sogar soweit ihre Opfer zu Straftaten zu bewegen um sie gefügig und erpressbar zu machen.

              Angefangen von Lüge, Diebstahl und Nötigung, über Drogenhandel bis hin zu Folter, Missbrauch und Mord. Letzteres ist im Bereich organisierten Missbrauchs üblich.

               

              Zum Glück scheint das aber die Ausnahme zu sein.

               

              MfG,

              Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

              • @Angelika Oetken:

                und ich bleibe bei schlamperei im begrifflichen. denn selbst wenn das mißbrauchte kind mutter und vater erschlägt, trägt es am mißbraucht-werden/worden-sein keine schuld.

                es sei denn, man konstruiert im nachhinein den (früheren/späteren) mißbrauch in einen tun-ergehenszusammenhang hinein.

                und das, liebe fru Oetken, ist ein denken, dem ich mich ganz ausdrücklich nicht anschließe.

                • @christine rölke-sommer:

                  Sie haben Recht. Ich habe mich nicht hinreichend korrekt ausgedrückt.

                  Danke für Ihren Hinweis.

                   

                  MfG,

                  Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

                  • @Angelika Oetken:

                    bitte-schön.

                    ich meine, das ist wie bei folter. wenn konsens besteht, dass folter nicht sein soll, dann kann/darf ich den nicht bei einem besonderen verbrechen/verbrecher mal kurzfristig aufheben. obwohl sich natürlich immer gründe finden lassen, die dafür sprechen, das zu tun. von ein kind bis zu ganz viele menschen retten.

  • Zitat aus dem Artikel:“ Als vierjähriges Mädchen wurde Oetken sexuell missbraucht, von einem Bekannten der Eltern.“ Zitat Ende. Um hier auf ForistInnen – die den direkten Hinweis vermissen, dass im familiären Bereich die meisten Fälle von Kindesmissbrauch geschehen – einzugehen:

    Ein Bekannter der Eltern ist Täter im familiären Bereich. Genau wie der Lebensgefährte (Lebensabschnittspartner) der Mutter. Wer auf dem Sofa der Familie sitzen darf, hat auch meist Zugriff auf das Kinderzimmer und den somit intimsten Bereich eines Kindes.

    Das haben auch mittlerweile alle Menschen verstanden, die sich mit sexualisierter Gewalt an Kindern beschäftigen. Bei der Antragstellung für das Ergänzende Hilfesystem Fond Sexueller Missbrauch ist der familiäre Nahbereich auch extra sehr weit gefasst worden. Kindesmissbrauch ist grenzüberschreitend in vielerlei Hinsicht.

    JaneO. Betroffene sexualisierter Gewalt in der Kindheit

  • G
    Gästin

    Noch ein Versuch. Zitat: "Es dauerte nicht lange, da war sie Teil eines Netzwerks von Menschen, die von Nonnen drangsaliert, von Pfarrern und Lehrern befummelt, von Pädagogen vergewaltigt worden waren." Ergänzung: Und von Menschen, die in ihrer Familie, von ihren Familienangehörigen, sexuell ausgebeutet wurden. Es ist so ermüdend (und eben realitätsverleugnend), wenn wir Familienbetroffene immer und immer und immer wieder unter den Tisch fallen - und sei es "nur" sprachlich.

    • @Gästin:

      @Gästin,

       

      Sie haben Recht: gemessen an der Tatsache, dass die meisten Missbrauchstaten innerhalb der Familien statt finden, bekommen diese Opfer viel zu wenig Aufmerksamkeit. Das hat meiner Ansicht nach ganz unterschiedliche Gründe und wäre einen eigenen Artikel wert.

      Die informelle Gruppe der ich angehöre hat sich im Zuge der Debatte um Opfer institutionellen Missbrauchs gebildet. Welche 2010 begann und zeitgleich wuchs unser Netzwerk kontinuierlich. Damals waren die "Institutionellen" sehr aktiv. Sie haben nachdrücklich dafür gesorgt, dass das Thema "Missbrauch" in der Mitte der Gesellschaft ankam. Da wo es auch hingehört. Darum bin ich diesen engagierten MitstreiterInnen auch sehr dankbar.

      Mittlerweile sind Betroffene verschiedenster Tatorte involviert. Die Hälfte davon Opfer familiären Missbrauchs, aber auch solche aus Institutionen wie Heimen, Internaten, Schulen und Sportvereinen. Fremdtäterbetroffene sind genauso dabei wie solche organisierten Missbrauchs.

       

      MfG,

      Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

    • @Gästin:

      Auch Fr. Oetken kann in diesem kurzen Artikel nicht alle Konstellationen von Betroffenen und TäterInnen abdecken. Auch Sie könnten bestimmt ein Buch füllen und Ihre Erfahrung, wie Sie damit umgehen, weitergeben. Dabei sollten wir nicht müde werden, gegen die Konkurrenz des Leidens anzukämpfen, ob die TäterInnen nun Mann, Frau, Kirchenmensch, Lehrer, "ErzieherInnen" aus Ost/West oder wer auch immer waren. Auch wenn mein persönliches Leid hier kaum Gehör findet, sehe ich doch ein tolles Beispiel, das allen verdammt viel Mut macht und obendrein Täter anhält, sich in Acht zu nehmen. Zusammen sind die Betroffenen immer stärker.

  • G
    Gästin

    Zitat: "Es dauerte nicht lange, da war sie Teil eines Netzwerks von Menschen, die von Nonnen drangsaliert, von Pfarrern und Lehrern befummelt, von Pädagogen vergewaltigt worden waren." Ergänzung: Und von Menschen, die in ihrer Familie, von eigenen (Stief)Familienmitgliedern, sexuell ausgebeutet wurden! Schade, dass das immer und immer und immer wieder vergessen/unterschlagen wird.

  • Ich finde es so wichtig, als Betroffener aufgefangen zu werden, möglichst schnell, aber z.B. auch auf dem Weg zurück vom Therapeuten, bei dem man ja eigentlich nicht mehr „nur Opfer“ ist, denn wieviel Mut hat man damit nicht schon bewiesen! Sollten sich die Täter davor nicht in Acht nehmen, weil sie mit solchem Mut und von innen erwachsender Stärke doch kaum mithalten können?! Genau das sehe ich bei Ihnen Frau Oetken und wünsche Ihnen immer mehr davon. Immer, wenn sich Betroffene zusammenschließen, gegenseitig auffangen, dann auch laut werden, kommt bei mir mehr als Hoffnung auf.

  • Es geht um die Erfahrung fundamentaler Machtlosigkeit, oder? Dieser begegnen die einen durch Bewusstsein, damit Konfrontation, und die anderen durch Verdrängung, damit Flucht. Der erste Weg ist der schwierigere. Wahrscheinlich verlangt er mehr Kraft, als viele aufbringen können. Der zweite Weg erscheint leichter, birgt aber die große Gefahr, Missbrauch (in gleicher oder anderer Form) zu wiederholen, an anderen, um unterbewusst über deren Machtlosigkeit die eigene Macht zurückzuerlangen. Jedoch klappt das nicht grundsätzlich, sondern höchstens für die Dauer des Missbrauchsverhaltens, was zu dessen erneuter Ausübung führt.

     

    Somit ist wohl der schwierigere Weg der bewussten Auseinandersetzung der einzig gangbare, will ein Opfer nicht Täter werden - nicht, dass dies zwangsläufig geschehen muss. Also das bewusste Ertragen/Aushalten/Akzeptieren des eigenen Leides, um andere vor ebenso leidvollen Erfahrungen zu bewahren. Einerseits. Andererseits besiegt man vielleicht gerade damit den Täter, der so nicht mehr unterbewusst durch einen wirken kann; einen nicht weiterhin unterbewusst missbraucht. Auf diesem Weg erweist man sich stärker als er; hat tatsächlich Macht zurückerlangt.

    • @Regenwetter:

      Genau! Danke! Dieser Weg verlangt, Gefühle freizulassen… mit Vorsicht (!!) und hoffentlich guter Begleitung, denn das wird wieder sehr sehr heftig, tut dann aber auch gut. Ich selbst bedauere oft, den Mut zum Erkennen/Ertragen… nicht schneller zu finden, fliehe gern vor Gefühlen, die dann hochkommen. Erst langsam lerne ich, dass es keine guten oder schlechten Gefühle gibt, sondern nur Ereignisse/Taten schlecht sein können. Wenn ich die Kraft, diese Gefühle zu unterdrücken, nicht mehr brauche, wird stückchenweise Energie frei, um mich immer besser damit auseinandersetzen, d.h. lebendiger reagieren zu können, ohne mich abreagieren zu müssen. Vielleicht kann ich mich dann auch mit anderen zusammentun, was noch mehr hilft. Das ist wohl nicht nur meine Erfahrung, denn was zeigt nicht gerade dieser Artikel.

  • S
    Somaro

    Erstmal schön, dass diese Frau nicht den Blick für die Realität verloren hat und offen anerkennt, dass auch Frauen missbrauchen, dass auch Jungen missbraucht werden.

     

    Mit ihrer Theorie kann ich aber nichts anfangen, im Umkehrschluss würde das nämlich bedeuten, dass Menschen die nicht in gesetzliche oder soziale Kriminalität verwickelt sind keinen Missbrauch begehen. Und das ist definitiv falsch. Ich fürchte bei dieser Theorie kommt das menschliche Bedürfnis zum tragen, für alles eine möglichst einfache und persönlich nachvollziehbare Erklärung zu finden.

     

    Auf jeden Fall finde ich es bemerkenswert, dass diese Frau es schafft über Missbrauch zu reden und aufzuklären (oder wenigstens es zu versuchen) ohne in Stereotype und Feindbilder zu verfallen. Wirklich mal eine erfrischende Vorgehensweise zu den restlichen Aktivistinnen und Organisationen.

    • @Somaro:

      Sie meinen wahrscheinlich die Sache mit der "Begleit- und Beschaffungskriminalität"? In Institutionen sind es tatsächlich häufig strafbare Handlungen, die Missbrauch möglich machen, der regelrecht durchorganisiert ist.

      Im familiären Bereich spielen vor allem Verrat, Sabotage und Opferung eine Rolle. Manche Kinder werden ganz pragmatischen Dingen wie wirtschaftlichen Vorteilen oder der Karriere geopfert, anderen wird nicht geholfen, weil die verantwortlichen Erwachsenen sich nicht entschließen können, sich dafür mit den eigenen Lebenslügen und Traumatisierungen auseinandersetzen.

      Und was auch nicht selten ist: die Opfer werden den Aggressoren aus reiner Bosheit ausgeliefert.

       

      Nach dem Motto "Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr".

       

      Ich persönlich bin sogar davon überzeugt, dass jemand der Kinder missbraucht über erhebliche kriminelle Energie verfügt und die Wahrscheinlichkeit, dass er auch in anderen Bereichen Grenzen überschreitet größer ist als bei "Normalen".

       

      Allerdings kann man auch viel Gutes und Wunderbares erleben. Nämlich wie Menschen sich trotz größter Widerstände für ihren Nachwuchs bzw. Kinder in ihrem Umfeld einsetzen. Das bewirkt sehr viel. Erfahrungsgemäß sind solche verlässlichen und kompetenten Beschützer eine gute Ressource für kindliche und jugendliche Opfer.

       

      MfG,

      Angelika Oetken, Berlin_Köpenick

    • @Somaro:

      Ja, es gibt eindeutig auch MissbrauchstäterInnen, die sonst hochgeachtet und wirklich rechtschaffend, ja sogar aufopferungsvoll sind und sich gerade dabei „kleine Opfer“ zum Abreagieren ihrer unverarbeiteten Gefühle halten. Manchmal „bemitleiden“ sie ihre „Opfer“ sogar öffentlich und verspotten sie damit „im Innenverhältnis“. Und diese „Opfer“ werden angesichts der „moralischen Unangreifbarkeit“ solcher TäterInnen noch schwerer damit fertig. Aber auch das geht irgendwie (s.o. und Kommentare zum Haasenburg-Skandal).

      • G
        Guesto
        @THG:

        Ich hab auch eine moralisch unangreifbare Mutter, die "ja alles für ihre Kinder getan hat und sich aufgeopfert hat für ihre Kinder". Wenn ich mich irgendwie zu meiner Kindheit äußere, krieg ich tierisch eins auf den Deckel von meinem gesamten Umfeld. Alle sagen, ich müsse ihr dankbar sein und ich hab irgendwann selber daran geglaubt und meinen eigenen Empfindungen nicht mehr getraut. Das Buch "Toxic Parents" hat mich ein Stück weit mir selbst wieder näher gebracht.

        • @Guesto:

          Auf Deutsch: "Susan Forward, Vergiftete Kindheit: Elterliche Macht und ihre Folgen." Nochmals Danke!

        • @Guesto:

          Danke! Oft sind es erst Bücher, die uns erste Schritte weisen, denn bei „unangreifbaren“ TäterInnen und zuerst oft absoluter Abhängigkeit können wir erst als Kinder und später auch als Erwachsene uns selbst nicht glauben.

          Oft fing es ja an, als wir noch nichts verstehen, sondern nur spüren konnten, uns so eigenes Fühlen abgewöhnten. So erkennen wir „des Kaisers neue Kleider“ der TäterInnen eher nicht, schämen uns nur selbst. Sonst würden wir die Ambivalenz zu diesen TäterInnen erst recht nicht aushalten. Damit wiederholen wir das böse/“liebe“ Spiel leider auch selbst und sind in der Verantwortung für uns, unsere Kinder/Partner, ein Aufarbeiten zu wagen, das immer auch emotional sein muss.

          Als Kinder können wir es kaum verhindern. Nicht mal jetzt glaubt man uns! 8 Erwachsene fragen und man bekommt Hilfe? Das wäre Glück, würde ich sagen. Allein die Idee, zu fragen, kommt wohl eher selten.

          Fazit: Es lässt sich kaum verhindern! Hilfe kommt bestenfalls spät. Wir tragen es in uns weiter. Also: Leute achtet auf euch und eure Partner! Was sind die Warnsignale, dass ich Missbrauch erlitten habe (sexualisiert, emotional, etc.), der mir evtl. nicht bewusst ist, weil ich es gar nicht wissen will, aber trotzdem weitergebe? Wie finde ich den Weg/Mut, es dennoch aufzuarbeiten, damit ich nicht selbst TäterIn werde, ob bewusst oder unbewusst? Das wäre Verantwortung, die ich von Eltern/“ErzieherInnen“ verlangen möchte.

  • EG
    Erwin Gast

    Hm, oben im Artikel taucht die mißbrauchende Nonne noch auf - im vorletzten Absatz dann ist wieder nur von Männern als Täter die Rede. Und dass in einem Medium, der die Nennung der Frau immer für äußerst wichtig befindet ... nur offenbar dann nicht, wenn Frau mal im negativen Zusammenhang auftaucht.

     

    Aber geht nicht damit bereits die Vertuschung los?

    Welchem Kind wird denn dann geglaubt wenn es von Mißbrauch durch Frauen berichtet, wo doch in allen Zeitungen immer steht dass die Perversen nur die Schwanzträger sind?

    • @Erwin Gast:

      Es ist schon so, wie es THG oben angemerkt hat: in dem Artikel kann nicht alles wiedergegeben werden, was ich Frau Apin berichtet habe.

      Für mich ist Missbrauch ein Teil unserer Sexualkultur. Frauen spielen beim Aufrechterhalten dieses furchtbaren Konstrukts eine Schlüsselrolle.

      Die Opfer von Frauen sind in unserem Netzwerk deutlich unterrepräsentiert. Wie sonst in der Gesellschaft auch. Ich habe zu vier Männern Kontakt, die sich öffentlich dazu bekennen, von Frauen missbraucht worden zu sein. Das ist äußerst mutig von denen. Denn das gesellschaftliche Klischee kennt ja keine männlichen Opfer, solche von Frauen erst recht nicht.

      Das Thema "Missbrauchstäterinnen" ist so aktuell, komplex und gleichzeitig hoch tabuisiert, dass es eine taz-Sonderbeilage wert wäre.

       

      MfG,

      Angelika Oetken, Berlin-Köpenick