Strukturwandel in China: Nichts für europäische Nostalgiker
Aus ergrauten Industriestädten sollen grüne Metropolen werden, aus armen Arbeitervierteln moderne Hochhaussiedlungen.
Der Smog hat sich in die Hauswände gefressen. Über Jahrzehnte haben Ruß, Schwefeldioxid und Staub ihre hässlichen Spuren hinterlassen. Unter den Fenstern ergießen sie sich, noch finsterer als am Rest der Wand, die vielleicht mal weiß war, vielleicht auch nicht. Bunte Schilder und beleuchtete Werbetafeln bringen Farbe in die ansonsten triste Gegend. Durch die beschlagenen Fenster einer Nudelküche scheint grelles Neonlicht.
Drinnen stehen Herr Wang, seine Frau und seine Tochter hinter dem Holztresen und warten auf Kundschaft. Während draußen Minusgrade herrschen, ist es hier heimelig warm. Die Nudelküche liegt im ehemaligen Industriegebiet Shenyangs, einer Millionenstadt im Nordosten Chinas – dem Ruhrpott der Volksrepublik.
Reiche Rohstoffvorkommen machten die Region in Zeiten der chinesischen Industrialisierung zum Zentrum der Schwerindustrie. Der umweltbelastende Bergbau, die Eisen- und Stahlerzeugung und die Giftstaub speienden Kohlekraftwerke ließen die Region vom einst reichen Stahlgürtel zum schmutzigen Rostgürtel verkommen, der aufgrund der starken Umweltverschmutzung wenig Lebensqualität bot.
Anreise: Der Flughafen von Guilin wird von verschiedenen Destinationen aus in Asien angeflogen. Von Deutschland aus am besten über Peking, Schanghai oder Hongkong. Unter anderem bietet Air China Flüge von Frankfurt aus ab 685,10 Euro an.
Visum: Für China wird ein Visum benötigt. Dies erhält man im Visa-Büro der chinesischen Botschaft oder des Generalkonsulats. Die Gebühr für ein einfaches Visum beträgt 20 Euro.
Reisezeit: Aufgrund des subtropischen Klimas sind die Frühjahrs- und Herbstmonate besonders gut für Reisen geeignet.
Rundreisen: Rundreisen, die auch durch Guilin führen, bietet Elements of China von China Tours, www.elementsofchina.de oder feel China, www.feelchina.de.
Fremdenverkehrsamt: Hier gibt es Tipps und Informationen, Ilkenhansstraße 6, 60433 Frankfurt am Main, (0 69) 52 01 35,www.china-tourism.de.
In den achtziger und neunziger Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage, Kohleminen waren erschöpft, viele Fabriken standen vor dem Bankrott. Es waren elende Zeiten für die Region und damit auch für die Industriestadt Shenyang. Die neuen kapitalistischen Fabriken im Süden hatten den einst so erfolgreichen Norden mit seiner Industrie längst abgehängt.
Urlaubsort für Arbeiter
Schnell wurde offensichtlich, woran die chinesische Industrie krankte: Die Staatsbetriebe waren ineffizient, die Anlagen nach fünfzig Jahren alt und rostig. Etwa 95 Prozent der Unternehmen schrieben rote Zahlen, die Produktion war weitestgehend eingestellt, da sie unwirtschaftlich war. „Urlaubsort für Arbeiter“ nannten die Menschen Shenyangs Industriegebiet Tiexi. Doch ein Paradies war es nicht: Aus erhabenen Arbeiterkulturpalästen waren längst heruntergekommene und trostlose Bauwerke geworden, von denen der Putz abbröckelte.
Den einst hochmodernen Arbeiterunterkünften nach sowjetischem Vorbild haftete der giftige Staub der Jahrzehnte an. Es moderte, rostete, rottete. Die Umweltverschmutzung war enorm. Shenyang rangierte unter den zehn Städten mit der schlechtesten Luftqualität weltweit. Die Zentralregierung zog die Notbremse, doch anstatt die alten Fabriken zu sanieren, entschloss sie sich für den großen Umbruch. Die Stadt sollte ein neues Gesicht bekommen.
Mitten in Tiexi liegt Herr Wangs Nudelküche. Die roten Tische sind am Nachmittag noch leer. Für umgerechnet gut zwei Euro gibt es hier eine große Schale Nudeln mit dünnen Rindfleischstreifen. Eigentlich gehört das Lokal seiner Frau. Womit Herr Wang sein Geld verdient, möchte er nicht sagen. Den kleinen Finger des 49-jährigen Mannes mit der Glatze ziert ein langer Nagel.
In Asien gilt dieser Fingernagel als Statussymbol wie hierzulande der Porsche auf dem eigenen Firmenparkplatz. Er zeigt, dass Herr Wang nicht körperlich arbeitet, sondern einer ist, der Befehle erteilt. Der Fingernagel passt nicht zu dieser Nudelküche, nicht zu Herrn Wang, der vielleicht wie China selbst mehr sein will als er ist.
Wo bleiben die Menschen?
Der Presse gegenüber ist er vorsichtig, erst bei einer zweiten Zigarette fängt er an zu erzählen. Als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Tiexi. „Die Straße sieht aus wie in meiner Kindheit“, sagt Herr Wang, wenig habe sich verändert. Ganz im Gegensatz zum Rest Tiexis. „Um unser Wohnviertel herum standen früher Fabriken und kleine Häuser – das war alles.“ Als junger Mann arbeitete er in einem Werk der Maschinenkooperation. Doch noch bevor es geschlossen wurde, kündigte er seinen Job und machte sich mit einem kleinen Geschäft selbstständig.
Das war vor der großen Entlassungswelle, die Mitte der neunziger Jahre im Nordosten Chinas Millionen Menschen von einem Tag auf den anderen vor den Fabriktoren stehen ließ. „Einige bekamen damals eine Entschädigung von der Regierung, doch längst nicht alle. Die meisten gründeten wie ich kleine Unternehmen oder wurden Taxifahrer.“ Die Menschen protestierten, doch trotz versprochener Sozialprogramme mussten viele ohne Abfindung auskommen.
Im Juni 2002 beschloss die Zentralregierung, die Probleme anzupacken, ließ die alten Fabrikgebäude Tiexis Block für Block abreißen und baute am Stadtrand ein neues Industriegebiet auf – moderner, effizienter, auf Profit ausgerichtet. Viele der alten Arbeiterunterkünfte wurden durch moderne Gebäude ersetzt, die der Menschenmassen Herr werden sollen, die vom Land in die Stadt ziehen. Und so veränderte sich das Stadtbild von Shenyang rasant.
Gestörtes Gleichgewicht
Wo vor zwanzig Jahren noch die Schornsteine qualmten, stehen heute moderne Hochhäuser und Shoppingmalls. Überall wird gebaut. Riesige Plakatwände preisen die neu entstehenden Viertel an, auf denen extravagante Autos vor glänzenden Wolkenkratzern stehen. Heute ist das alte Industriegebiet Tiexi wieder hipp, wer es sich leisten kann, zieht hierher. Hunderte Baukräne künden von weiteren Neubauten. Ein Gebäude gleicht dem anderen, mal sind es fünfundzwanzig Stockwerke, mal dreißig. Dass hier vor zehn Jahren noch zahllose Fabriken standen, ist heute schwer vorstellbar.
Herr Wang nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, pustet den Rauch langsam aus. „Vor der Krise war die Lebenssituation stabil, wer einmal einen Job in einer Fabrik hatte, blieb dort für den Rest seines Lebens. Er bekam eine Wohnung gestellt, war versorgt. Heute ist alles viel komplizierter, es gibt Arbeitsverträge, die jederzeit gekündigt werden können, Essen und Kleidung sind teurer geworden.“ Es ist die alte Sicherheit der kommunistischen Planwirtschaft, in der jeder gleich viel hatte, die den Menschen hier fehlt. Das Gleichgewicht hat sich verschoben, sagt Herr Wang, früher waren in seinem Viertel alle gleichgestellt, selbst der Vorgesetzte hatte nicht viel mehr als der Arbeiter.
Heute zeigen teure Kleidungsstücke, luxuriöse Wohnungen oder protzige Autos, wie weit man es gebracht hat. Es ist nicht gut, wenn das Gleichgewicht gestört wird, findet Herr Wang, wenn wenig und viel Geld aufeinander treffen. So wie derzeit in Tiexi. Doch die Entscheidungen aus Peking zu kritisieren, liegt vielen fern – auch Herrn Wang. Insgesamt, so resümiert er, habe sich die Lage ja deutlich verbessert.
Hochhäuser und Eventhallen
Ob das kleine Wohnviertel und die Nudelküche noch lange existieren, ist jedoch fraglich. Die Stadtväter wollen das gesamte Gesicht der Stadt verändern, die so schnell wächst, dass immer mehr Ackerland im Umland der Expansion zum Opfer fällt. In der Shenyang Urban Planning Hall zeigt ein Modell der Stadt, 1.500 Quadratmeter groß, vergleichbar der Größe von zwei Tennisplätzen, wie Shenyang bereits in wenigen Jahren aussehen soll.
Das Modell ist übersät mit Hochhäusern und modernen Eventhallen, kleine individuelle Häuser oder Wohneinheiten sucht man vergeblich. „Nein“, erklärt die Museumsführerin, „die kleinen Häuser, die jetzt noch stehen, werden abgerissen.“ Sie passen nicht in das moderne Bild der Stadt. Groß, größer, Shenyang lautet die Devise.
Europäische Nostalgiker werden den urigen, urbanen Charaktervierteln nachtrauern, die bald durch anonyme Bauwerke ersetzt werden. Doch um vergangenen Zeiten nachzutrauern, bleibt China bei seiner rasanten Entwicklung keine Zeit. Und so wundert es nicht, dass zwischen all den interaktiven Museumselementen und großflächigen Ausstellungen eines fehlt: ein Ort des Gedenkens an die Millionen Arbeiter, die von heute auf morgen vor dem Nichts standen.
Im Jahr 1993 gab es im Nordosten Chinas laut offiziellen Statistiken drei Millionen Arbeitslose, fünf Jahre später schon über 17 Millionen. In Tiexi blieb kaum einer in seiner Anstellung. Zeitzeugen erzählen von etlichen Selbstmorden in jener Zeit, Zahlen gibt es nicht. Es waren die Menschen, die die Last der rasanten Modernisierung trugen, die Verlierer der Pekinger Wirtschaftsreformen. Doch für Verlierer ist in China kein Platz. Peking pumpt Milliarden in die Problembezirke. Shenyang ist die neue Vorzeigestadt, aus der ehemaligen Dreckschleuder soll eine Öko-City werden. Und sie ist auf einem guten Weg: Die Umweltbilanz hat sich rasant verbessert.
Der Smog in Shenyang trübt deutlich seltener den Blick in den Himmel, heute ist es der Baustaub, der für graue Nachmittage sorgt. Konnten die Menschen in Shenyang im Jahr 2002 gerade einmal an 209 Tagen den Himmel sehen, waren es 2011 schon 331 Tage. Beim Wandel der Stadt wird auf eine umweltfreundliche Bauweise geachtet, alles soll grüner, energiesparender, fortschrittlicher werden. Wo einst der Ruß der Kohleöfen die Luft verschmutzte, sorgt heute Naturgas für saubere Wärme.
Eine der letzten Fabriken des alten Bezirks Tiexi ist die Northeast Pharmaceutical Group am Rande des Bezirks, die ihre Produkte auch nach Deutschland exportiert. Die Japaner errichteten sie im Jahr 1946, nun muss sie auf Druck der Zentralregierung weichen. „Damals stand sie nicht wie heute in einem Wohngebiet, sondern am Rande Shenyangs“, sagt Wang Yuan Hang, stellvertretener Generaldirektor, der vor siebzehn Jahren nach Shenyang kam. „Ich erinnere mich an den ersten Besuch meiner Eltern. Sie fuhren vom Bahnhof aus einmal quer durch Tiexi, damals noch ein heruntergekommenes Industriegebiet, in dem nur die armen Menschen lebten. Am liebsten hätten sie mich wohl gleich wieder mit nach Hause genommen.“
Im Jahr 1998 kaufte er in Tiexi eine Wohnung direkt neben dem Metallhüttenwerk. „Mein Appartement lag parallel zu dem Schornstein der Fabrik. Ich habe die Wohnung damals nur gekauft, weil sie billig war.“ Drei Jahre später wurde das Werk geschlossen, der Schornstein abgerissen. Wang Yuan Yang konnte seine Wohnung zum doppelten Preis verkaufen.
Erkaltete Schornsteine
Seit vier Jahren plant die Unternehmensspitze nun den Umzug des Betriebs, spätestens 2016 soll er abgeschlossen sein. Etwa 180 Millionen Euro hat der Neubau die Firma bislang gekostet. Die Betriebsfläche hat sich verdoppelt. „Einen Teil der Kosten haben wir durch den Verkauf unseres Grundstücks an die Regierung wieder reinbekommen“, sagt Wang Yuan Yang, „mehr staatliche Unterstützung bekommen wir nicht.
Die restlichen Gelder werden aus dem Gewinn des Unternehmens und vom Aktienmarkt generiert.“ Ein Großteil der Materialproduktion erfolgt bereits in den neuen Hallen außerhalb der Stadt. Von den 9.000 Angestellten werden alle an dem neuen Standort übernommen, Neueinstellungen wird es nicht geben. Die meisten Arbeiter begrüßen den Wechsel, wenn auch nicht alle, sagt Wang Yuan Hang.
Der stellvertretende Generaldirektor möchte keinesfalls als Kritiker verstanden werden. „Der Umzug ist viel mehr als eine staatliche Auflage. Um auf dem Weltmarkt konkurrieren zu können, müssen wir den hohen Ansprüchen unserer Kunden gerecht werden und unsere neue Produktion noch umweltfreundlicher gestalten.“ Ein paar Blocks weiter sind die Schornsteine bereits erkaltet.
Die Fabrik, die einst den grauen Platz mit ihren dicken Stahlträgern und ihrer massigen Statur beherrschte, wirkt heute inmitten Dutzender, in die Wolken ragender Gebäude fehl am Platz. Die Hochhäuser umschließen die alte Fabrikhalle, überragen weit ihr Dach, als würden sie das alte Bauwerk verhöhnen. Graue Betonklötze, die neue Heimat für Tausende Bewohner Shenyangs, zu viele, zu dicht gedrängt. Etliche stehen leer.
Doch die Menschen werden kommen, da sind sich die Stadtväter sicher. Die Landflucht in China ist immens, die jungen Menschen zieht es in die Großstädte. Offiziell leben sieben Millionen Menschen in Shenyang, inoffiziell geht man bereits von neun Millionen aus. Tendenz steigend.
Unter dem Vordach der alten Fabrikhalle sitzt ein Mann in einem grauen Mantel, brauner Hose, Baskenmütze. Einfache Klamotten, trotzdem hat der Mann etwas Anmutiges. Seine Finger umschließen einen Bambusbogen, lassen ihn über die Saiten einer Erhu gleiten, eines zweiseitigen Streichinstruments, das von der Instrumentenführung an eine Geige erinnert, jedoch viel schlichter ist.
Die Luft ist besser
Er spielt mit bloßen Händen, bei Minusgraden. In seiner Wohnung kann er nicht spielen, die Nachbarn würden sich beschweren. Ruhige Töne erfüllen den Raum unter den alten Stahlstreben. „Vor zehn Jahren hat die Fabrik der Großmaschinenkooperation geschlossen“, sagt Herr Ma, „nun haben sie hier ein Museum und Kulturzentrum eröffnet, die Fabrik als Industriedenkmal erhalten.“
Herr Ma hat jahrzehntelang als Metallarbeiter gearbeitet, zuletzt in einem Elektrizitätswerk. Vor zwei Jahren ging er in Rente, damals war er 61 Jahre alt. Er hat fast sein ganzes Leben in Tiexi verbracht hat – erst zum Arbeiten, später dann auch zum Wohnen. Der pensionierte Metallarbeiter lebt in einem der neuen Gebäude, die nach dem Abriss der alten Fabriken wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. „Viele Werke waren alt und in keinem guten Zustand“, sagt Herr Ma, die neu gebauten Betriebe seien dagegen mit den modernsten Technologien ausgestattet.
Die Luft in Tiexi sei heute viel besser, die Lebensbedingungen sind komfortabler. Und die Zahlen geben ihm recht: Vor zehn Jahren lebte ein Bewohner im Durchschnitt auf 12,2 Quadratmetern, 2011 war es fast das Dreifache. „Früher kamen wir nur zum Arbeiten hierher, heute träumen viele Menschen davon, hier zu wohnen.“
Leisten könne sich das jedoch nicht jeder, das Einkommen sei zwar gestiegen, mit ihm aber auch die Preise. „Es kommen viele Fremde nach Shenyang“, sagt Herr Ma, bewerten möchte er diese Entwicklung nicht. „Damals hatten wir wenig Druck, alles wurde vom Staat und dem Betrieb geregelt. Heute ist das Leben schneller, der Druck viel höher.“ Doch hier unter den grauen Stahlstreben kann Herr Ma durchatmen. Er setzt die Erhu auf sein Knie, nimmt den Bambusbogen in seine rechte Hand, schließt die Augen und spielt.
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