Der Fortsetzungsroman: Kapitel 8: Ficken gegen den Endsieg
Der Brief vom 15. 5. 1944 ist der älteste, den ich von meinem Großvater habe. Die Schrift ist ameisenklein und schnurgerade. Und der Brief ein Zeugnis der Liebe.
Der 15. Mai 1944 war ein Montag. In Nordafrika haben die deutschen Truppen kapituliert. Der U-Boot-Krieg im Nordatlantik steht kurz vor dem Ende. Die Luftoffensive der Alliierten hat begonnen. Im Osten hat die Rote Armee die Halbinsel Krim zurückerobert.
Die UFA-Wochenschau-Ausgabe „Europa Woche“ vom 15. 5. 1944 beginnt mit einem Besuch im Zoo. Löwen im Käfig, die von Wärtern durch die Gitterstäbe gestreichelt werden und sich hinschmeißen vor Wonne wie kleine Kätzchen. Man sieht Eisbären, die in Bassins aufeinander losgehen unter dem johlenden Geschrei blonder deutscher Mädchen. Die gezähmte Wildnis zum Anfassen. Weitere Themen: Kartoffelaussaat in Holland. Azaleenausstellung in Paris.
In Ungarn beginnen am 15. Mai 1944 die Massendeportationen der ungarischen Juden. Zielort ist fast ausschließlich Auschwitz. Bis zum 8. Juli transportiert die SS unter Adolf Eichmann als sogenanntes Sonderkommando Eichmann ungefähr 480.000 Menschen in die Vernichtungslager. Mindestens 250.000 werden vergast.
Am 15. Mai 1944 sitzt mein Großvater im Zug von Liegnitz nach Goldberg in Oberschlesien und schreibt einen Brief an meine Großmutter.
„Große Liebe“, schreibt er, „müde und glücklich, glücklich und müde – aber das Glück ist größer als die Müdigkeit. Und wenn man deine Augen gesehen hat, kann man nun auch nur von Glück und Seligkeit widerstrahlen und man vergisst die ’realen‘ leicht senklustigen Augen.“
Paul fängt an zu lachen, als ich ihm das vorlese. „Denkst du, sie hatten Sex?“, frage ich ihn. „Auf jeden Fall“, sagt er und grinst dreckig. Ich überspringe ein paar Zeilen und lese den Schluss:
„Ernst zu nehmender Brief? Ich glaube nicht. Hör nur das eine: Ich liebe, liebe, liebe Dich.
Dankeschön für die Zigaretten in der Herzenstasche –
Bleib so treu wie möglich –
Einen Kuss – ein Liebesspiel – und voller Seligkeit, Dankbarkeit und Liebe
Dein Sandy“
Das Ypsilon hat einen kleinen Schnörkel nach unten. Wer meinen Großvater gekannt hat – wer zumindest, wie ich, seine Handschrift und seine Schreibweise gut kennt (niemals ein Fehler, weder bei der Grammatik noch in der Orthografie) –, versteht diesen Schnörkel als das, was er ist: ein Ausbruch absoluter leidenschaftlicher typografischer Überschwänglichkeit.
Und „Liebesspiel“ heißt Ficken, davon ist wohl auszugehen.
Ich weiß, dass Mütterchen seine erste Frau war, sein erstes Mal, seine erste große Liebe deshalb. Sie war 32 Jahre alt, Schauspielerin, klug, witzig, schön, mutig, von Anfang an im antifaschistischen Widerstand. Vor allem dadurch, dass sie regelmäßig „Rassenschande“ betrieb. „Und zwar mit Vergnügen!“, wie sie grinsend betonte.
Ficken gegen den Endsieg war ihre Mission.
Mein Großvater war 24 und schwer verunsichert, als er Mütterchen begegnete. „Ick hab ’nen Webfehler“, soll er gesagt haben. Weil sein Vater Jude war. Weil er deshalb, seit er in die Pubertät gekommen war, laut Gesetz keinen Sex mehr mit anderen Menschen haben konnte, ohne diese Menschen in Gefahr zu bringen. Stellt euch das vor! Ihr steht auf jemanden, seid verknallt hinauf bis über beide Ohren und hinab bis in die Untiefen eures Begehrens. Jeder Traum ist feucht, jeder Blick ein Versprechen, der Atem des anderen duftet köstlicher als alles, was ihr je kosten durftet. Und dann dürft ihr nicht ran. Gar nicht. Überhaupt nicht. Schon der Versuch einer Annäherung wäre ein Gesetzesverstoß. Und zwar nicht gegen moralische, tradierte, gewissensmäßige. Gegen echte Gesetze. Festgeschriebene. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935 stellt sexuellen Kontakt mit Juden generell unter Strafe. „§2 Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.“ Heirat erst recht. Was für ein Glück, dass er sie getroffen hat! Dass sie ihn getroffen hat. Dass Hilde Born ihn getroffen hat im Wunderzug nach Guben!
Der Brief vom 15. 5. 1944 ist der älteste, den ich von ihm habe. Die Schrift ist tintenblau, ameisenklein und schnurgerade. Ich kann mir nicht erklären, wie er das im Zug geschrieben haben will. So sauber schreibe ich nicht mal, wenn ich ICE fahre. Geschweige denn mit der Oberschlesischen Eisenbahn. Nicht mit der Hand.
Wenn wir heute im Zug sitzen, schreiben wir uns höchstens dreckige kleine Nachrichten via Wischtelefon: „Ich denke an deine Brüste. Mein Schwanz ist hart.“ Oder „Ich denke an deinen Schwanz. Meine Muschi wird nass.“ Poetisch wie Fastfood. Von dem, was heutzutage an Bildmaterial über die Messenger der sozialen Netzwerke verschickt wird, ganz zu schweigen. Wie fachgerecht portioniert vom Metzger Ihres Vertrauens sehen die kopflosen Tittenbildchen aus. Einsame Penisse staken traurig in die Nacht.
Mütterchen hat ihm auch Fotos geschickt. Da war sie ganz drauf, angezogen, in einem rückenfreien Abendkleid. So schön, so verführerisch, dass sich alle meine „Freunde“ sofort in sie verliebt haben, als ich die Bilder zu ihrem hundertsten Geburtstag online gestellt habe.
Auf der Rückseite des Briefes vom 15. 5. 44 sind Pfeile aufgemalt. Ich hab sie nachgemessen. „Noch einen Kuss“ steht da [Pfeil 6 cm] „noch einen“ [Pfeil 10,5 cm] „bis hier“ [Pfeil 19 cm, so lang ist mein altes Schullineal gar nicht] „Spiel bis hier“ steht an dem längsten Pfeil dran. Es soll Leute geben, die wollen nicht wahrhaben, dass ihre Eltern jemals Sex hatten. Ich könnte weinen vor Glück, wenn ich mir meine Großeltern beim Ficken vorstelle.
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