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Crash-Kurs im Ausländerrecht

Eine 13-Jährige soll aus dem Unterricht heraus abgeschoben werden. Zwei Lehrerinnen verhindern dies, indem sie Schülerproteste organisieren. Am Sonntag erhalten sie dafür die Ossietzky-Medaille

Von Annette Leyssner

Es traf sie wie aus heiterem Himmel: Die 13-jährige Tanja Ristiç wird ins Sekretariat ihrer Neuköllner Schule bestellt. Dort wartet die Polizei, um die Schülerin in Abschiebehaft zu nehmen. Die weinende Tanja darf nur noch schnell ihre Tasche aus der Klasse holen. Das war im August 2004. Wenn sich Lehrerin Mechthild Niesen-Bolm an die dramatische Szene erinnert, spricht sie von einem Glücksfall – weil ihre Schülerin nicht zu Hause abgeholt wurde: „Das hätte ich gar nicht mitbekommen. Tanja wäre am nächsten Tag nicht zur Schule gekommen. Ich hätte gedacht, sie ist krank, und bis das mit der Abschiebung dann bekannt wird, wäre sie schon in Bosnien gewesen.“ Sie und eine Kollegin verhinderten durch ihren Einsatz die Abschiebung der Schülerin. Dafür zeichnet die Internationale Liga für Menschenrechte beide am Sonntag mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille aus. Dieser Preis wird einmal im Jahr verliehen.

Aufgrund des Schocks, dass eine Schülerin einfach so aus dem Unterricht geholt werden kann, entwickelten sich Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat zu Aktivistinnen in Sachen Flüchtlingshilfe. Die beiden Lehrerinnen der Fritz-Karsen-Gesamtschule in Neukölln setzten sich umgehend mit Anwälten und dem Flüchtlingsrat, einem Zusammenschluss von Initiativen, in Verbindung. Und quasi über Nacht absolvierten die beiden Pädagoginnen einen „Crashkurs in Ausländerrecht“, wie Niesen-Bolm sagt. Sie organisierten eine Demonstration von Tanjas Mitschülern vor dem Rathaus Neukölln. Zahllose Briefe und Telefonate führten zu Gesprächen mit Politikern, die den Fall der Familie Ristiç schließlich vor die Härtefallkommission brachten. Die Kommission begutachtet Fälle von Flüchtlingen, die rein nach Rechtslage das Land verlassen müssten, für deren Bleiberecht aber außerordentliche Gründe geltend gemacht werden können. Letztlich entscheidet der Innensenator, ob Empfehlungen der Kommission umgesetzt werden.

Die Familie Ristiç ist ein solch komplexer Fall: Die Eltern flohen mit ihren beiden Töchtern 1995 während des Bosnienkrieges und kamen wie weitere 30.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Berlin. Im August 2004 wollten dann Tanjas Eltern und ihre 16-jährige Schwester Sanja bei der Ausländerbehörde ihre Duldung verlängern lassen. Routine, dachten sie, aber es kam anders: Alle drei wurden in den Abschiebeknast in Köpenick gebracht. Eine Polizeistreife holte Tanja aus der Schule. Sanja und ihr Vater wurden ins Flugzeug nach Sarajevo gesetzt. Tanja und ihre Mutter kamen nach einigen Stunden frei. Mittlerweile besitzen die beiden nicht zuletzt dank des Einsatzes der Lehrerinnen ein Bleiberecht. Der Vater hat von Bosnien aus einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt.

Für Mechthild Niesen-Bolm und Inge Wannagat war mit diesem Erfolg ihr Engagement nicht zu Ende: Sie haben mit dem Grips-Theater das Stück „Hier geblieben!“ zur Situation von Kindern geschrieben, die nicht wissen, ob sie in Deutschland bleiben dürfen. Mit Pro Asyl, dem Flüchtlingsrat Berlin und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft haben die Lehrerinnen Unterrichtsmaterialien zu diesem Thema entwickelt.

„In unserer Schule sind einige Schüler, die nur mit Duldung hier sind. Tanjas Banknachbar Ivan zum Beispiel sagt, dass er nicht auch eines Tages abgeholt werden will. Wenn ein Kind sagt: ‚Ich habe Angst, abgeholt zu werden‘ hört sich das einfach falsch an. Da kann was nicht stimmen“, sagt Wannagat.

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