piwik no script img

Liebäugeln mit GefahrenzonenKlobürsten für Kiel

Die sinkende Zahl von Angriffen auf Polizisten ist für Ministerpräsident Albig kein Anlass zur Entwarnung. Er erwägt Gefahrengebiete.

Üben in Eutin: Bald schon könnten die neuen Schutzschilde im Gefahrengebiet eingesetzt werden. : dpa

KIEL taz | Kaum ein Bundesland erreicht in der Sparte „Gewalt gegen Polizisten“ so hohe Werte wie Schleswig-Holstein. Besonders Lübeck und Neumünster stechen im Verhältnis von Einwohnerzahl und Gewalt gegen Polizisten weit heraus. 2013 ist die Zahl der Übergriffe zwar gesunken, aber Ministerpräsident Torsten Albig und Innenminister Andreas Breitner (beide SPD) sahen trotzdem keinen Anlass zur Entwarnung. Albig schloss am Mittwoch bei einer Tagung der Landespolizei in Altenholz die Einrichtung von Gefahrengebieten nach Hamburger Vorbild nicht aus.

Bisher sieht nur das Hamburger Polizeigesetz die Einrichtung von Gefahrengebieten vor, wie es zuletzt Anfang Januar nach gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Demonstranten in den Stadtteilen St. Pauli, dem Schanzenviertel und Altona eingerichtet wurde. Die Polizei durfte in diesem Gebiet Personen ohne Begründung kontrollieren, ihre Identität überprüfen und ihre Taschen durchsuchen. Bei einer Durchsuchung wurde eine Klobürste als angebliches Schlaginstrument beschlagnahmt – und das Badezimmer-Utensil später zu einer Ikone des Protests gegen die Polizeitaktik.

354 PolizistInnen wurden 2013 in Schleswig-Holstein bei Einsätzen verletzt – 20 Prozent weniger als 2012. Auch die Zahl der Angriffe auf Beamte insgesamt sank um zehn Prozent auf 1.188. „Die Zahl der Fälle war damit zuletzt zwar rückläufig, sie liegt aber weiterhin auf einem hohen Niveau“, sagte Landespolizeiamtssprecher Jürgen Börner.

Bei der Tagung schilderten zwei Polizisten, wie sie im Dienst verletzt wurden. „Wenn jemand fast zu Tode kommt und nach zwei Jahren gibt es nicht einmal eine Anzeige, ist das nicht akzeptabel“, sagte Albig. Der Staat müsse klar machen, dass er Grenzverletzungen nicht hinnehme, Gefahrengebiete seien da eine Möglichkeit. „Wer Polizeibeamte angreift, greift Rechtsstaat und Demokratie an“, sagte Breitner.

Ungenaues Bild

Die Zahlen liefern aber ein ungenaues Bild. So sieht die Statistik Neumünster mit 102 Übergriffen auf Beamte an der Bundesspitze – die Zahl bemisst sich allerdings pro 100.000 Einwohner und musste von der realen Bevölkerungszahl von unter 80.000 hochgerechnet werden. Zudem wurden Körperverletzungen bisher mit dem geringfügigeren „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ geführt.

Eben hier sind die Zahlen aus Schleswig-Holstein seit Jahren so hoch, dass sie 2009 Thema einer Doktorarbeit waren. Der Autor Sebastian Messer befragte Polizisten in Lübeck, Kiel und Mannheim, in welchen Fällen sie eine Anzeige wegen „Widerstands“ schrieben. Denn das entscheidet der Betroffene selbst.

Ein Beispiel, das zitiert wird: „Die Durchführung einer Blutentnahme wird durch den gewaltbereiten Beschuldigten mittels kräftigen Verschränkens der Arme auf dem Rücken verhindert.“ In Messers Untersuchung sahen doppelt so viele Beamte in Lübeck in diesem Verhalten einen anzeigewürdigen Widerstand wie in Mannheim. Auch „prophylaktische Anzeigen“, die einer möglichen Gegenanzeige wegen Nötigung im Amt zuvorkommen sollen, werden im Norden häufiger geschrieben.

„Nicht den starken Mann markieren“

Die Landespolizei will die Übergriffe weiter reduzieren. Sie hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt und das Einsatztraining geändert. Innenminister Breitner mahnte einen anderen Umgang zwischen Polizei und Bevölkerung an: „Die Verrohung nimmt zu. Dabei sind Polizeibeamte keine Gegner im Alltag, sondern Helfer und Verbündete.“

Die Grünen nannten Albigs Vorschlag, Gefahrengebiete einzurichten, kontraproduktiv. Er solle „nicht den starken Mann markieren“, sagte der innenpolitische Sprecher Burkhard Peters. Die beidseitige Eskalation habe in Hamburg die Fronten verhärtet. „Das kann für Schleswig-Holstein nicht der richtige Weg sein.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

7 Kommentare

 / 
  • C
    Christian

    Ok, das heisst kurz gesagt, wenn ein*e Beamtin im Rahmen einer Demo sagt "Verpiss dich"(sowas sagen solche großen Vorbilder natürlich nicht, hahaha), ich mich weigere und auf das darauf unvermeidilch folgende Rumgeschubse nicht damit reagiere, vorbildlich demokratisch aufs Maul zu fliegen, habe ich laut Statistik eine Gewalttat gegen eine*n Beamt*in verübt.

    Ok, ist leicht überspitzt, aber darauf läuft das doch hinaus, oder?

    Wer so zählt, muss sich auch nicht über zahlreiche "Gewalttaten" wundern.

  • J
    Jay

    Wenn die Polizei Zivilisten nur halb so sehr schützen würde wie sich selbst hätte sie sogar eine Daseinsberechtigung.

    Aber wenn ich immer höre/lese wie das Leben eines Polizisten so viel mehr wert ist als das anderer Menschen kann ich nur kotzen. Alle Menschen sind gleich? Demokratie? Nichts als Wörter die auf irgendeinem Papier verschimmeln!

  • A
    arbeiter

    der staat hat angst wie nie zuvor...sollte er auch....europa steht in flamen ( sozial gesehn)

  • H
    Hugo

    Und Mannheim liegt in Baden-Württemberg! Wäre der mal nur ein paar Kilometer weiter nach Heidelberg gekommen, da hätte er ein ganz anderes Bild vorgefunden, vermutlich dem von Lübeck etwas näher als das Mannheimer.

  • N
    noeffbaux

    Jetzt dürfte auch dem letzten klar werden, warum die Bundeswehr bei "katastrophischem Ausmaß" auch im Inland eingesetzt werden können darf: um bald auf Proteste reagieren und im Zweifel gewaltsam eingreifen zu können.

     

    Oder zweifelt jemand daran?

     

    Wir leben in einer Diktatur der Kapitalisten. Demokratie ist nur schöner Schein, der uns davon ablenken soll, dass wir uns in frühkapitalistische Zeiten zurück bewegen und aller Kampf der Arbeiterklasse vergebens war.

    • G
      Gast
      @noeffbaux:

      Der Historiker Polybios (um 200–118 v. Chr.) prägte für diese Art Demokratie den Begriff Ochlokratie (altgr. ὀχλοκρατία, aus ὄχλος óchlos ‚Menschenmenge, Masse, Pöbel‘, und -kratie, deutsch auch Pöbelherrschaft).

      Polybios stellt die Ochlokratie als Verfallsform oder „Entartung“ der demokratischen Staatsform dar. Dabei geht die Orientierung am Gemeinwohl verloren, statt dessen bestimmen Eigennutz und Habsucht das Handeln der Gewählten.

  • G
    gast

    „Wer Polizeibeamte angreift, greift Rechtsstaat und Demokratie an“

     

    so eine Denkweise fordert Terrorismus praktisch heraus. wenn man mit einem Angriff auf Polizist_innen nicht mehr Menschen verletzt, sondern Staaten und Systeme. Nur wenn der Staat selbst diese Verbindung zieht, wird er erst angreifbar.