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Ärzte außer KontrolleRuhe durch Ritalin

In Hamburg und Bremen bekommen immer mehr Kinder mit hohem Bewegungsdrang und Konzentrationsstörungen umstrittene Medikamente.

Das in Hamburg besonders gern verschriebene Ritalin ist unter Medizinern höchst umstritten. Bild: dpa

HAMBURG taz | Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein, detonierte heftig aber kurz und der Pulverdampf verzog sich schnell. Vor genau einem halben Jahr verkündete der Verband der Ersatzkassen, VDEK, dass nirgendwo mehr Ritalin an Kinder und Jugendliche verordnet werde als in Hamburg. Mit dem hoch umstrittenen Medikament soll die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – auch Zappelphilipp-Syndrom genannt – vor allem von Kindern und Jugendlichen eingegrenzt werden. Die Devise lautet: Ruhe durch Ritalin.

Rund eine Woche wurde über den Ritalin-Boom im Norden hitzig diskutiert, Abhilfe gefordert. Passiert aber ist bislang nichts.

„Die Verordnungsrate des Wirkstoffs liegt fast 50 Prozent über dem Bundesdurchschnitt“, warnte der VDEK, der sechs Ersatzkassen, etwa die Barmer, die Kaufmännische oder auch die Techniker Krankenkasse vertritt. Mit 18,6 Tagesdosen pro tausend Kindern ist Hamburg unangefochten Tabellenführer, doch Bremen folgt mit 15,1 Dosen immerhin auf Platz drei.

AD(H)S und Ritalin

Methylphendiat heißt der in Ritalin und wirkungsgleichen Präperaten wie Risperidon enthaltene Wirkstoff. Er soll Unruhe dämpfen und die Konzentration steigern.

Als Nebenwirkungen von Ritalin sind unter anderem Schlafstörungen, Gewichtszunahme, motorische Störungen und Wachstumsverzögerungen bekannt.

Kinder, die an ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) leiden, sind eher nach innen gerichtete "Träumer". Auch sie bekommen oft Ritalin verschrieben.

ADHS-Kinder gelten hingegen als hyperaktiv und haben einen ausgeprägten Bewegungsdrang.

Jungen im Alter von 10 bis 19 Jahren sind die Bevölkerungsgruppe, der Methylphendiat-Präparate weitaus am häufigsten verschrieben werden.

„Rund 5.000 gesetzlich versicherte Hamburger Kinder und Jugendliche schlucken täglich Methylphendiat“ – so der Name des Wirkstoffs –, teilte der VDEK mit. Dabei ist der Hamburger Ritalin-Boom Teil einer bundesweiten Verschreibungsflut. Wurden 1993 noch 34 Kilo Ritalin pro Jahr in Deutschland verschrieben, so waren es 2010 bereits 1,8 Tonnen – Tendenz weiterhin steigend.

Die Akteure aber ducken sich weg: Der Hamburger Gesundheitsbehörde war die Ritalin-Studie keinen Kommentar wert. Auch die Hamburger Ärztekammer mag die Ritalin-Flut nicht bewerten und verweist stattdessen auf den Vorsitzenden des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, den Eimsbütteler Kinderarzt Stefan Renz, als Ansprechpartner. Doch auch der lässt nur ausrichten, er habe zu dem Thema „nichts zu sagen“.

Einer, der sich eine Meinung leistet, ist der ärztliche Leiter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Nord, Bernhard von Treeck. Die Zahlen aus Hamburg seien ein Alarmsignal, warnt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Denn wer glaubt, die Vergabe des Medikaments sei ein Großstadtphänomen und die Nord-Stadtstaaten seien deshalb naturgemäß vorn, der irrt. So findet sich zwischen Hamburg und Bremen Rheinland-Pfalz auf Platz zwei des Bundesländer-Rankings, während in Berlin nur halb so viel Ritalin verschrieben wird wie in Hamburg.

Von Treeck, der über die Hyperaktivität von Kindern promoviert hat, warnt vor einer allzu sorglosen Verschreibungspraxis. Eine aktuelle Studie aus Bochum zeigt: Es gibt kaum klare Diagnosekriterien für ADHS. Besonders bei männlichen Heranwachsenden wird die Krankheit zu häufig diagnostiziert.

„Die Diagnosequalität ist extrem schlecht“, glaubt auch von Treeck. „Wir haben deshalb keine belastbaren Daten, ob zu viel Ritalin verschrieben wird oder nicht.“ Wenn ein Kind gar kein ADHS habe, sondern nur verhaltensauffällig sei, könne das Medikament großen Schaden anrichten. Zudem sollte eine Ritalin-Vergabe immer nur innerhalb eines gesamttherapeutischen Konzepts erfolgen.

„Hamburg ist eine reiche Stadt, deshalb müsste die Zahl an psychischen Erkrankungen eigentlich niedriger sein“, sagt von Treeck. Deshalb dürfe man diese Verordnungszahlen nicht einfach akzeptieren. „Man muss ihnen auf den Grund gehen“, findet der Mediziner.

Das könnten die Kassenärztlichen Vereinigungen tun. Nur sie kommen an die Daten von Ärzten, die solche Medikamente auffällig oft verschreiben. „Doch die Vereinigungen haben kein Interesse, diese Ärzte anzusprechen und sich so unbeliebt zu machen“, sagt von Treek.

Das sieht man bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg naturgemäß anders. „Wir können keinen Arzt nötigen, etwas zu verschreiben oder nicht zu verschreiben“, erklärt deren Sprecherin Franziska Schott. Die Kassenärztlichen Vereinigungen seien schließlich nicht dazu da, die Verordnungspraxis einzelner Ärzte zu kontrollieren.

Damit bleibt die entscheidende Frage offen: Wer dann?

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12 Kommentare

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  • GA
    Gast aus Brandenburg

    Ich habe mir zur Gewohnheit gemacht die gelesenen Artikel mit 0,50 € oder mehr zu bezahlen, dieser Artikel ist aber unter dem Niveau der Taz, tut mir echt leid.

     

    Ein Vorurteil nach dem anderen wiederkäuen und nicht mal Risperidon von Methylphenidat unterscheiden zeugt nicht von Sachkenntnis. Das Medikament sei "umstritten", die Verschreibungszahlen seien "ein Alarmsignal", es gebe einen "Ritalinboom" und eine "Verschreibungsflut".

     

    Schon mal daran gedacht, dass dieses Medikament offenbar vielen Menschen sehr hilft und das mit geringen Nebenwirkungen? Sonst wäre es wohl nicht so beliebt, oder?

     

    Und haben Sie in Erwägung gezogen, dass Fachärzte in Hamburg (und Bremen) auch von vielen Eltern aus dem Umland frequentiert werden?

     

    18,6 Tagesdosen bei 1.000 Kindern heißt, dass 1,9 % der Kinder es an einem beliebigen Tag kriegen. Das ist keine Überversorgung, die Zahl der von ADHS betroffenen Kinder liegt doch viel höher.

     

    Ritalin in Kilo und Tonnen angeben klingt ja ganz nett. Natürlich wurde 1993 viel weniger davon genommen, da war die Stimulanzientherapie auch fast unbekannt.

     

    "Die Devise lautet: Ruhe durch Ritalin." Das ist eine Beleidigung der Eltern, von denen sich niemand ausgesucht hat ein Kind mit ADHS zu haben. Darf man eigentlich Angehörige von Betroffenen anderer Störungen auch so ungestraft beschimpfen? Reden Sie doch besser mal mit den ADHS-Selbsthilfeverbänden, wenn Sie an einer differenzierten Berichterstattung interessiert sind!

  • G
    Gast

    Methylphenidat ist ein Psychostimulans und daher eben gerade kein Neuroleptikum wie Risperidon. Der Autor sollte sich erstmal fachkundig machen, bevor er so falsche Darstellungen in der TAZ publiziert. Bei einer Häufigkeit von 4,7 Prozent (also etwa 5 von 100 Kindern), die ADHS in einem klinischen Sinne haben, ist eine Verordnungshäufigkeit im Promillebereich eher eine Unterversorgung ! Natürlich kann man sich über Medikamente grundsätzlich Gedanken machen. Aber man sollte zunächst mal die Selbsthilfegruppen bzw Fachleute befragen : Die werden einheitlich sich für eine Medikation aussprechen. Schlicht und ergreifend, weil sie gut und nebenwirkungsarm wirkt und den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mehr Selbststeuerung, Emotionskontrolle und letztlich auch eine begabungsadäquate Ausbildung ermöglicht. Nicht zu reden von den Auswirkungen von Nichtbehandlungen wie Unfallrisiko oder Selbstmedikation mit Alkohol oder Cannabis...

    • @Gast:

      die Pharmalobby lässt grüssen...,

      Kinder täglich und über Jahre mit Chemie vollstopfen ist KINDERMISSHANDLUNG...,

  • 7G
    774 (Profil gelöscht)

    Erst hat man die Kinder erzogen, dann war man antiautoritär und jetzt versucht man es halt mit Drogen. Die Wissenschaft macht echt Riesen-Fortschritte.

  • ADHS ist eine Verhaltensstörung und keine biochemische Krankheit...,

    und Ritalin lässt nur die Pharmaindustrie reicher werden...,

  • R
    Rechtschreibnazi

    MethylphenIDAT heißt das Zeug

  • P
    Patientin

    Ich habe nicht die Motiation, das allgemeine ADHS-Bashing zu kommentieren, aber eine Korrektur liegt mir dann doch auf dem Herzen:

     

    Methylphenidat ist *nicht* der Wirkstoff in Risperidon.

    Im Gegenteil, Risperidon ist ein eigener Wirkstoff, nämlich ein Neuroleptikum, das in hohen Dosen bei Schizophrenie gegeben wird, in niedrigen Dosierungen selten auch bei Agressivität bei Kindern.

     

    Entsprechend sind auch die angegebenen Nebenwirkungen falsch.

    Motorische Störungen und Gewichtszunahme sind typische Nebenwirkungen von Neuroleptika, die Dopamin-Antagonistisch wirken.

     

    Methylphenidat ist dagegen wie Koffein, das in Energy-Trinks vorhandene Taurin, aber auch wie Amphetamin ein Noradrenalin/Dopamin-Wiederaufnahmehemmer und erhöht damit die Menge an Dopamin im Gehirn. Dass Methylphenidat bei ADHS-Kindern beruhigt, und nicht aufweckt (wie es bei den meisten Gesunden täte), wird oft als "paradoxe Reaktion" bezeichnet.

     

    Wenn ein derart kardinaler Fehler im Artikel zu finden ist, spricht das natürlich auch für die Qualität des Artikels und den Wissensstand, der zu der Meinung, die der Autor ausdrückt, geführt hat.

  • Ich erinnere mich an ein Bericht aus den USA, wo eine Schulkrankenschwester täglich Ritalin ausgab an den Kindern, welche das laut Ärzte benötigten. Sie selbst sagte allerdings, dass die meiste Kinder es gar benötigen würden, wenn sie statt Zucker-Milch-Gemisch (Cerialien genannt) normal fürhstücken würden und am Nachmittag nicht vor dem Fernseher, sondern draußen herum toben würden.

    Sagt die Studie adzu etwas?

     

    Und dann die Diagnostik als solches. Da die Symptome von ADHS und chronische Unterforderung nach außen hin identisch sind, sollte ganz am Anfang eine ausführliche und qualifizierte Begabungsdiagnostik stehen und zwar durchgeführt von Psychologen (keine Sonderpädagogen oder anderen) die sich mit weit überdurchschnittlich begabte Kinder wirklich auskennt. Erst wenn das Ergebnis vorliegt und ausgeschlossen werden kann, dass die Symptome nicht von Unterforderung kommen, sollte man weiter schauen.

     

    Was die Lehrpersonen angeht: Was diese unruhige Kinder angeht, das ist nun einmal unseren Job, dafür werden wir bezahlt. Wir sollten bei Unruhe in der Gruppe zuerst auf unserem Unterricht schauen. Kritisch, nicht selbstherrlich davon ausgehend, dass ein Kind in unsere Klasse nicht unterfordert sein kann.

     

    Die letzte Gruppe die sich ernsthaft überlegen muss, was sie an der Lösung des ungehemmten Verschreibens ändern können sind die Politiker. Aufhören an Bildung zu sparen; Lehrpersonen in der Lage versetzen einen ordentlichen Unterricht zu halten indem die Gruppen kleiner sind.

     

    Ach, da fällt mir noch so viel ein, aber lasse ich es für heute dabei.

    • J
      Josef Švejk
      @Olav van Gerven:

      " normal fürhstücken würden und am Nachmittag nicht vor dem Fernseher....."

       

      Wenn genau das Wünschenswerte nicht stattfindet, so muß man dies wohl auch als eine Realität erstmal anerkennen.

       

      Jungs toben rum, bzw. taten sie das früher mal. Durften es, und es gab entsprechende Um-Welten....

       

      Im Artikel ist ganz gender-konform von "Kindern" die Rede. Die Alltagserfahrung sagt stattdessen "Jungs", wenn es um Ritalin geht. Ein kurzes googeln ergibt eine 3 1/2 mal höhere Verordnungsquote bei Jungs als bei Mädchen.

       

      Kann man über Ritalin schreiben, ohne genau diesen Unterschied als zentrales Faktum zu diskutieren?

       

      Daß es ein "Jungen-Problem" gibt, sollte sich doch inzwischen rumgesprochen haben....

      Oder haben wir es hier eher mit einer ideologisch verordneten Ignoranz zu tun?

      (....was ja wohl das Gegenteil von Gleichberechtigung wäre....)

  • L
    Lorenz

    Mich würde interessieren, wieviel 'Ritalin'-Wirkstoff in den 60iger Jahren verschrieben wurde. Jahre in denen Kinder Sportunterricht und -freizeit hatten. Und nicht nur das, sondern auch Wiesen auf denen sie sich austoben konnten.

  • KG
    Klaus-Dieter Grothe, Gießen

    Ich kann als Kinder- und Jugendpsychiater Herrn Von Treeck nur unterstützen: die Diagnosequalität ist sehr schlecht, wissenschaftliche Nachuntersuchungen gehen davon aus, dass nur 10% der Diagnosen überhaupt den Kriterien nach DSM oder ICD entsprechen. Deshalb bedürfen die Zahlen der weiteren Aufklärung. Leider haben sich in ihren Beitrag auch Fehler eingeschlichen: so enthält Risperidon einen gänzlich anderen Wirkstoff und Methylphenidat führt als Nebenwirkung (falls schlecht eingestellt) zu Gewichtsverlust und nicht Gewichtszunahme.

  • EM
    Eine Meinung

    wenn kinder (gilt für menschen im allgemeinen) probleme haben

     

    sollte man sich um die probleme kümmern

     

    und nicht einfach die betroffenen ruhig stellen