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Traumaberater über Gewalt gegen Jungs„Niemals Opfer sein“

Jungen stehen jetzt stärker im Fokus der Diskussion über sexuelle Gewalt, sagt Thomas Schlingmann, aber noch nicht genug: Der Missbrauch zerstört ihr Männlichkeitsbild.

Jungen richten sich eher an traditionellen Männlichkeitsbildern aus. Bild: dpa
Simone Schmollack
Interview von Simone Schmollack

taz: Herr Schlingmann, seit vor vier Jahren die Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen öffentlich wurden, debattiert die Gesellschaft über sexualisierte Gewalt an Jungen. Gerade wird der SPD-Politiker Sebastian Edathy verdächtigt, kinderpornografisches Material besessen zu haben.

Thomas Schlingmann: Der Fall ist schockierend. Vor allem, weil hauptsächlich über den Täter gesprochen, aber kaum an die Jungen auf den Fotos, die Edathy legal gekauft haben will, gedacht wird. Als im Zuge der Ermittlungen am Bonner Aloisiuskolleg Tausende von Fotos mit Jungen auftauchten, wurde gesagt: Das sind keine Pornos, sondern harmlose Bilder eines Kunstfotografen. Wie aber haben sich die Jungen gefühlt, die als Masturbationsvorlage dienen?

Hat die Debatte nichts gebracht?

Ja und Nein. Einerseits sind Jungen jetzt stärker als bisher im Fokus des Diskurses, obwohl immer noch mehr Mädchen Opfer werden. Andererseits sind Mädchen und Jungen in der Debatte merkwürdig geschlechtslos geworden.

Ist das nicht egal? Es geht schließlich um Kinder.

Unabhängig davon, dass es für Mädchen und Jungen vergleichbare Auswirkungen nach einem Missbrauch gibt, beispielsweise Ohnmachtsgefühle oder das Empfinden, zum Objekt gemacht worden zu sein, spielt die Geschlechtsspezifik eine große Rolle. Für Jungen stellt sich maßgeblich die Frage, wie sie ein erwachsener, richtiger Mann werden sollen, wenn sie Opfer waren. In ihren Augen ist das ein Widerspruch.

privat
Im Interview: Thomas Schlingmann

55, ist Traumaberater bei Tauwetter, einer Berliner Beratungsstelle für Männer, die als Jungen sexualisierte Gewalt erlebt haben.

Weil Jungs keine Opfer sein dürfen?

Ja. Am häufigsten werden Kinder Opfer sexualisierter Gewalt im Alter zwischen 10 und 12 Jahren. In dieser Zeit werden sie sich zunehmend ihres Geschlechts bewusst. Die meisten Jungs richten sich nach wie vor eher an traditionellen Männlichkeitsrollen aus und landen damit in der Falle, als Opfer unmännlich zu sein. Diese Vorstellung von Männlichkeit findet sich auch oft in ihrem Umfeld wieder: Offenbart sich ein missbrauchtes Mädchen, reagiert das Umfeld tendenziell eher als bei einem Jungen, weil es sich sexualisierte Gewalt gegen Jungen schwerer vorstellen kann.

Dieses Bild hegemonialer Männlichkeit vermag die Missbrauchs-Debatte nicht aufzubrechen?

Dazu müssten die Unterschiede bei sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen stärker thematisiert werden. Fast alle Männer, die zu uns kommen, stellen sich die Frage: Bin ich noch ein richtiger Mann? Zwar reagiert jeder Junge anders auf diese Frage, aber wir können zwei typische Verhaltensweisen beobachten. Einerseits die innere Leugnung des Missbrauchs, den Versuch, das Geschehene zu vertuschen und durch betont männliches Verhalten zu kompensieren. Andererseits Rückzug und Resignation, das Fügen in die Opferrolle.

90 Prozent aller Täter sind Männer. Täterinnen spielten in der Debatte bislang keine Rolle. Warum nicht?

Die Zahl der Täterinnen ist wesentlich geringer als die der Täter. Von Frauen geht nicht, wie das antifeministische Männerrechtler gern behaupten, die gleiche Gewalt aus wie von Männern. Maskulinisten, rechtspopulistische Medien und skandalisierende Boulevardblätter versuchen immer wieder, das Bild von Täterinnen für sich zu nutzen.

Aber es gibt doch auch Täterinnen.

Ja, das kann eine Mutter sein, eine Oma, eine Babysitterin. Aber auch eine Erzieherin oder Lehrerin. Es betrifft Mädchen und Jungen, und es kann alle Formen haben. Alles, was ein Täter tun kann, kann auch eine Täterin machen. Notfalls nimmt sie Gegenstände zur Hilfe.

Die öffentliche Debatte hat aber auch eine große Verunsicherung bewirkt: Männlichen Kita-Erziehern wird geraten, beim Wickeln die Türen offen zu lassen, Eltern werden auf Spielplätzen argwöhnisch beäugt …

Man kann es auch so sehen: Endlich schaut man mal hin. Väter müssen sich beim Spiel mit ihren Kindern reflektieren, Erzieher müssen sich an bestimmte Regeln halten. Erzieherinnen übrigens auch.

Solche Regeln gibt es doch längst.

Als konkrete Vereinbarungen in den einzelnen Einrichtungen gibt es sie zu selten, und sie sind kaum mit Leben gefüllt. Wichtig ist, sich über die kleinen alltäglichen Grenzverletzungen auszutauschen. Wenn beispielsweise ein Erzieher oder eine Erzieherin ein Kind auf eine Weise auf den Arm nimmt, die einer anderen Mitarbeiterin schon zu weit geht.

Was soll die dann machen?

Die Beobachtung ansprechen. Im Alltagsstress fallen einem selbst bestimmte Handlungsweisen nicht auf.

Während Beratungsstellen für Mädchen mittlerweile relativ gut ausgestattet sind, bleibt das Beratungsnetz für Jungen löchrig.

Das ist eine Katastrophe, vor allem auf dem Land. Wir brauchen regionale Fachberatungsstellen, die mit den Strukturen vor Ort wie beispielsweise Kirchengemeinden oder Schützenvereinen oder der Freiwilligen Feuerwehr kooperieren.

Das sind Organisationen mit einem meist traditionellen Männlichkeitsbild. Wie soll das gehen?

Einige beginnen schon, sich gegen sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen zu engagieren. Aber sie benötigen als Unterstützung fachliche Kompetenz.

Woran liegt es, dass so wenig für Jungen getan wird?

Zu viele Männer kümmern sich immer noch zu wenig um andere Männer. Das liegt eindeutig an den hegemonialen Männlichkeiten.

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10 Kommentare

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  • Neues Musikvideo zur Pädokriminalität:

    Neenich, Neenich, geh nich mit ihm in den Wald ! https://www.youtube.com/watch?v=Hn6VEsUdUlc

  • A
    Althippie

    Im Zusammenhang mit dem Ausagieren von Pädophilie wird die Naturgegebenheit der Neigung oft als eine Art von Rechtfertigung dafür, dass sie ausagiert wurde, genommen. Meist sind dann auch Renaissance oder alte Griechen nicht weit (die unter anderem auch den Sklavenhandel und die Todesstrafe als natürliche Bestandteile ihres Selbstverständnisses erachteten). Hier wäre mir etwas Systemtheorie, verbunden mit der Erkenntnis, dass es "natürlich" im Sinne von "eigentlich wahr" schon seit mindestens hundert Jahren nicht mehr gibt, lieber.

    Der neue Mensch ist in jeder Richtung eine Sublimierungsmaschine, und das ist auch gut so, und an dem Anspruch müssen sich auch Pädophile messen lassen.

     

    Also: endlich weg mit Rousseau und diesem Humbug in solchen Diskursen, aber schleunigst!

  • lese mit großen augen "Für Jungen stellt sich maßgeblich die Frage, wie sie ein erwachsener, richtiger Mann werden sollen, wenn sie Opfer waren. In ihren Augen ist das ein Widerspruch."

    und frage: für mädchen stellt sich diese frage nicht?

    mir scheint, der herr Schlingmann muß noch einiges an seinem weiblichkeitsbild arbeiten!

    • A
      Althippie
      @christine rölke-sommer:

      Warum für ein Mädchen die Erfahrung, mal begrabscht zu werden, unglücklicherweise immer noch weitgehend dem Alltag entspricht, thematisiert weiterhin Alice Schwarzer, wenn auch zunehmend ungehört und vergeblich. Und gegen den anwachsenden Widerstand ausgerechnet junger Frauen. In der realen Bezugsgruppe wird man leider als Jugendlicher leider nicht idealtypisch sozialisiert, sondern atavistisch, was bedeutet, nach den Prinzipien der Steinzeit: du bist dabei, oder nicht dabei. Und wenn du kein 'richtiger' Junge bist, bist du meist nicht dabei.

      • @Althippie:

        und wenn du nicht mal begrapscht worden bist, dann bist du kein richtiges mädchen? - so ungefähr liest sich das.

  • BF
    betroffene Frau

    Ich (Frau) persönlich habe den Eindruck, dass die Debatte an Würde gewonnen hat, setdem sich betroffene Männer stärker zu Wort melden. Eben weil sie sich nicht so einfach wie Frauen auf die betreuungsbedürftige Opferrolle reduzieren lassen. Können Frauenzentren echt was von lernen. Schade, dass es keine gemischten Selbsthilfegruppen gibt. Oder bin ich keine Frau, weil ich so denke?

  • X
    XOXO

    John, mit Verlaub: Sind Sie als Kind zu heiß gebadet worden???

  • JS
    Julian Scheuner

    Männer in Pädagogischen Berufen berufen stehen unter Generealverdacht. Und wie der Experte bestätigt ist dies gewollt. So braucht sich keiner beschweren,wieso immer weniger Männer in jenen Berufen arbeiten wollen.

  • E
    Eindanksager

    >Man kann es auch so sehen: Endlich schaut man mal hin.

    / Oh wie schön, endlich! Endlich wird beim Winkeln die Tür öffen gelassen damit auch wirklich jeder von außen zusehen kann (hey, Privatsphäre, wen kümmerts?), endlich sehen sich männliche Erzieher wieder sovielen Vorurteilen ausgesetzt, dass sie nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen können, endlich wird der Körperkontakt zu Kindern wieder verboten, endlich werden die Kleinen endgültig emotional vernachlässigt. Toll, wirklich toll. Danke ihr wenigen, die KiPos konsumieren, vielen Dank an euch, dass ihr das alles ermöglicht habt. Und, man soll ja nicht einseitig sein, auch vielen Dank, an all diejenigen, die euch ausnutzen um ihre prüden und kinderfeindlichen Vorstellungen durchzuboxen. Danke. Ich liebe euch.

    Man erkenne den Sarkasmus, oder lasse es.

  • J
    Jay

    Auf der einen Seite beschwert er sich darüber, dass man Jungen die Opferrolle weniger abnimmt als Mädchen, auf der anderen Seite jedoch hält er es für totalen Unsinn, dass man Frauen die Täterrolle weniger abnimmt als Männern...