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Integration im Gentrifizierungs-KiezDeutsch-Türkisch für Anfänger

Eine Gruppe Akademiker schickt ihre Kinder auf eine Brennpunktschule. Sie engagieren sich. Und die Migranteneltern reagieren.

An der Karlsgartenschule in Berlin-Neukölln lernen Kinder unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters in einer Klasse. Ihre Eltern verbindet nur wenig Bild: Anja Weber

BERLIN taz | Als die gute Schule ihre Tochter nicht haben will, beschließt Susann Worschech, dass es Zeit ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie sitzt am Küchentisch ihrer Wohnung im Berliner Bezirk Neukölln, vor sich ein Schreiben der Evangelischen Schule in der Nähe, einer Grundschule mit hervorragendem Ruf, Hockey-AG und nach Einkommen gestaffeltem Schulgeld. „Es lagen uns aber so viele Anmeldungen vor, dass wir leider Ihre Anmeldung nicht mehr berücksichtigen konnten“, steht da.

In diesem Moment im Herbst 2011 trifft Susann Worschech eine Entscheidung, die dazu führen wird, dass Fernsehteams sie interviewen und sie den Berliner Staatssekretär für Bildung trifft. Sie wird ihr Streit bescheren und Leute dazu bringen, sie als Eindringling zu betrachten.

Susann Worschech, damals 32 Jahre alt, Soziologin, entscheidet sich, ihre fünfjährige Tochter Ella auf die öffentliche Schule um die Ecke zu schicken.

Die Haustürklingel ist wieder kaputt, also kommt Susann Worschech aus dem vierten Stock nach unten und öffnet selbst. In Gummilatschen tritt sie aus der Tür, den Müllbeutel in der Hand, und schlängelt sich vorbei an Dutzenden Fahrrädern zu den Tonnen im Hof durch. „Wenn unsere Hausverwaltung auf Zack wäre, würde sie mal Fahrradständer einrichten“, sagt sie.

Oben im Flur der Dreizimmerwohnung hängen zwei Fahrräder an der Wand, darunter stehen die Kinderräder. Sie wohnen hier zu fünft – die Kleinste ist anderthalb, ihr Sohn fast sechs. Und Ella, die in die zweite Klasse der Schule um die Ecke geht, ist mittlerweile sieben.

Werben um die Deutschen

Nur mit Test: Schulen in Gegenden mit vielen Migranten werben verstärkt Kinder aus deutschen Elternhäusern. Ein Modell: Schulen richten Klassen ein, für die Kinder einen Deutschtest bestehen müssen. An der Gustav-Falke-Grundschule im Berliner Bezirk Wedding gibt es seither höhere Anmeldezahlen. Der Bezirk will in jedem Schulsprengel mindestens eine solche Klasse einrichten.

Nur für Freunde: Mit Sammelanmeldungen ist es möglich, dass befreundete deutsche Kinder in eine Klasse kommen, so etwa an der Lemgo-Schule in Berlin-Kreuzberg. Deshalb können Eltern durch Vorabsprachen überwiegend deutsche Klassen organisieren.

Abgehängte neben Aufsteigern

Die Schule um die Ecke ist die Karlsgarten-Schule. Eine normale staatliche Grundschule. Normal für Berlin-Neukölln. Mehr als 80 Prozent der Schüler kommen aus Einwandererfamilien. Kanakenschule sagten die Neuköllner in den 90er Jahren, Ausländerschule sagen die Türken aus dem Kiez noch heute. Leute, die sozialisiert sind wie Susann Worschech, sagen: Brennpunktschule.

taz.am wochenende

Was passiert, wenn Bionade-Eltern und Kopftuchmütter eine Schule retten wollen? Das allerdings nicht immer gemeinsam. Wie der Wunsch nach Integration wirklich Wirklichkeit wird, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 22./23. Februar 2014 . Außerdem: Was macht einen Pädophilen aus? Ein Interview mit dem Sexualwissenschaftler Peer Briken. Und: Wie die Westukraine gegen die Machthaber in Kiew kämpft. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Der Schillerkiez, die Gegend, in der Susann Worschech wohnt, gilt als sozialer Brennpunkt. Ein Haushalt hat hier im Durchschnitt knapp 1.700 Euro im Monat zum Ausgeben, jeder Vierte ist arbeitslos gemeldet.

Susann Worschech und ihr Mann finden 2003 in Neukölln schnell eine Wohnung. Der ramponierte Ruf des Viertels und der angrenzende Flughafen Tempelhof halten die Mieten niedrig. Doch dann schließt der Flughafen und wird zu einer riesigen öffentlichen Grünfläche. Es kommen noch mehr Studenten, Künstler, Akademiker. Die Besitzer der Kneipen wechseln und bieten statt Berliner Kindl Bio-Zisch an. Soziale Kolonisierung nennen Soziologen das.

Die Mieten steigen. Plötzlich steht die Gegend im Fokus von Leuten, die sich mit Gentrifizierung beschäftigen – der Aufwertung von Vierteln durch Verdrängung sogenannter A-Gruppen: Alte, Arme, Alleinerziehende, Arbeitslose, Ausländer.

Im Schillerkiez ist alles noch dicht beisammen. Hundehaufen neben Nobelwohnung, Abgehängte neben Aufsteigern.

Sie wollen keine „biodeutsche Parallelwelt“

Nur an den Schulen mischen sich die Welten nicht.

„Es gibt Eltern, die karren ihre Kinder ins benachbarte Tempelhof, damit sie auf eine möglichst homogene Schule gehen, und leben hier in ihrer biodeutschen Parallelwelt“, sagt Susann Worschech. Sie hat sich an den Tisch in der Küche gesetzt, an dem sie vor zweieinhalb Jahren die Absage der Evangelischen Schule las. An die Enttäuschung kann sie sich noch gut erinnern.

Eine normale Schule in Berlin-Neukölln: 85 Prozent der Kinder kommen aus Einwandererfamilien Bild: Anja Weber

Die Nervosität hatte schon früher eingesetzt, Ella war gerade vier geworden. Die Nervosität vieler deutscher Eltern: Welche Schule kommt infrage? Wie weit darf sie entfernt sein? Oder doch lieber wegziehen?

2006 schreiben die Lehrer der Rütli-Schule in Neukölln einen offenen Brief über alltägliche Gewalt und Verweigerung. Seitdem steht die Frage, wie gut eine Schule in Neukölln funktioniert, auch dafür, wie Integration in deutschen Großstädten gelingt.

Susann Worschech ist gerade im Ausland, als ihr Mann anruft. Er erzählt begeistert vom Tag der offenen Tür an der Karlsgarten-Schule. Ihr sei fast der Hörer aus der Hand gefallen, sagt sie.

Akademikereltern an die Ausländerschule

Als die evangelische Schule später doch noch zusagt, steht Worschechs Entschluss bereits fest: Ich schicke Ella an die Karlsgarten-Schule. Aber nicht allein, und ich mache ein großes Ding draus.

Sie gründet mit drei anderen eine Elterninitiative, organisiert Treffen mit Schulleiterinnen und Lehrern, lädt die Bildungssenatorin und die Presse ein. Die Geschichte von den deutschen Akademikereltern, die ihre Kinder an einer Ausländerschule anmelden, verkauft sich gut.

„Warum flüchten wir in Schulen, die weit weg sind, anstatt hier und jetzt gemeinsam etwas zu verändern?“, schreiben die Eltern in einem Aufruf.

Sie wollen eine „Kiezschule für alle“, so nennen sie ihre Initiative. Eine alte Utopie: Wenn alle gemeinsam lernen, lernen alle am besten. Wir wollen keine Parallelgesellschaften, ist eine Botschaft der Elterninitiative. Eine andere: Wenn unsere Kinder kommen, wird die Schule besser.

Engagiert sind auch die anderen

Dass es dort aber viele Eltern gibt, die schon lange davon überzeugt sind, dass ihre Kinder in eine gute Schule gehen, das haben Susann Worschech und die anderen damals übersehen.

Eine Unachtsamkeit, könnte man sagen.

Eine Herabwürdigung, sagt Halit Kamali.

Halit Kamali ist der oberste Elternvertreter der Karlsgarten-Schule, seit 2009. Er ist einer dieser Väter, die das Beste für ihre Kinder wollen und dafür sorgen, dass sie es auch bekommen. Als es Zeit ist, eine Schule für seine Tochter Melina auszusuchen, steht fest: Sie kommt nicht an eine staatliche, nicht hier in Neukölln. Er kennt den Direktor der Evangelischen Schule und lässt seine Tochter dort vormerken.

Aber weil das Prozedere es so vorsieht, musste er Melina zuerst an der Karlsgarten-Schule anmelden. Dort trifft er Melinas spätere Klassenleiterin, die sagt: Geben Sie mir ein paar Wochen. Sie werden sehen, dass wir eine gute Schule sind. Kamali kommt ein Jahr lang fast jeden Vormittag mit seiner Tochter in die Klasse, um sich davon zu überzeugen.

Die alteingesessenen Eltern fühlen sich übergangen

Man kann Halit Kamali einen Helikoptervater nennen. Einen, der schützend über seinen Kindern kreist.

Im penibel aufgeräumten Wohnzimmer von Kamalis Eigentumswohnung schaut man vom weinroten Ledersessel auf einen großen Flachbildfernseher. Halit Kamali, Anfang vierzig, zurückgekämmte Haare, wohnte früher mal im Nachbarbezirk Kreuzberg. „Dort wurde alles Schickimicki, es zogen immer mehr Deutsche zu, eine reine Monokultur.“ Deshalb ist er vor acht Jahren nach Neukölln gezogen. „Hier fängt es mittlerweile auch schon an.“

Zum Beispiel mit diesen deutschen Eltern, die kommen und anfangen, seine Schule umzukrempeln. „Die Eltern von der Kiezinitiative hatten mit allen gesprochen“, sagt Halit Kamali. „Aber nicht mit den alteingesessenen Eltern.“

Susann Worschech, Soziologin, gründete eine Initiative „Kiezschule für alle“. Halit Kamali, Hausverwalter, hat längst einen Elterntreff in's Leben gerufen Bild: Anja Weber

„Alteingesessene“, wird Susann Worschech später schnauben, wenn sie diesen Satz hört. „Wir wohnen hier seit zehn Jahren, wir sind ja wohl auch Alteingesessene.“

Kamalis Familie zieht mit ihm nach Deutschland, als er zwei Jahre alt ist. Kurz vor der Einschulung schickt ihn sein Vater in die Türkei. Er macht seinen Abschluss, kommt wieder nach Deutschland und holt das Abitur nach. In einer Klasse für Kinder mit Migrationsgeschichte.

Als er Elternvertreter an der Karlsgarten-Schule wird, organisiert Kamali eine Unterschriftensammlung für einen Zebrastreifen vor dem Schultor. Die Eltern merken: Wir können etwas bewirken. Kamali holt Dozenten an die Schule, die sie über ihre Rechte aufklären. Er findet: Eltern müssen frecher werden. In der Türkei verhalte man sich gegenüber Lehrern eher devot.

„Kopftuchmütter“ und „Studenteneltern“

Er baut einen offenen Elterntreff auf. Ein Raum im Erdgeschoss ist täglich geöffnet. Drei Mütter und ein Vater arbeiten dort. Sie vereinbaren für jene, die wenig Deutsch sprechen, Termine beim Schularzt und begleiten Klassen auf Ausflüge. Kamali nennen sie ihren Chef.

Halit Kamali setzt sich an die Stirnseite des Tischvierecks im Elterntreff. „Ich rede jetzt mal Tacheles“, sagt er. „Wir haben hier einiges erreicht. Und dann kommen die Eltern von der Kiezschulinitiative und glauben, sie können tun, was sie wollen.“

Halit Kamali und Susann Worschech treffen sich im Frühjahr 2012 in der Schule zum ersten Mal. Sie denkt: ein cooler, offener Typ. Er denkt: Toll, dass diese engagierten Eltern kommen.

Zwei Jahre später zieht die Klassenleiterin von Susann Worschechs Tochter Ella die Stirn in Falten, wenn man fragt, wie sich die neuen und die alten Eltern begegnen. „Begegnen? Das ist doch wohl eher so –“, sie bewegt ihre linke Handfläche am rechten Handrücken vorbei. Ein Nebeneinander.

Die einen sitzen im Elterntreff. Die anderen im Café Blume an der Straßenecke gegenüber.

Das Café Blume ist der Treffpunkt der Kiezschulinitiative. Hier gibt es frischen Ingwer Tee für 2,50 Euro und Babyccino für 1,50 Euro. Im Elterntreff ist der türkische Tee umsonst.

„Die Kopftuchmütter“, sagen die einen über die anderen. „Die Studenteneltern“, sagen die anderen über die einen. Deskriptive Zuschreibungen, die eine Distanz ausmessen.

Die Kluft im Klassenzimmer

Die meisten Frauen, die um ein langes Tischviereck im offenen Elterntreff sitzen, tragen tatsächlich Kopftuch und ziehen ihre schwarzen langen Mäntel im Schulhaus nicht aus. Sie reden untereinander Türkisch. Eine Frau hat süßes Gebäck mitgebracht und reicht es herum.

Von der Kiezschulinitiative haben einige noch nie gehört. „Das ist die, wo die Eltern ihre Kinder an die Ausländerschule schicken“, sagt eine. Waren sie schon mal beim Stammtisch der Kiezschulinitiative? Die Frauen schütteln die Köpfe. Und kommen die Eltern der Initiative manchmal hier vorbei? Noch mal Kopfschütteln. Sie seien willkommen. Aber man sei hier eben nur bis zwei, wenn die Studenteneltern arbeiten. Danach warte der Haushalt.

Ihre Kinder gehen gemeinsam zur Schule. Fünf Tage die Woche lernt Susann Worschechs Tochter Ella mit Ahmed und Khan, Miriam und Iren. Der Abstand zum Sitznachbarn beträgt weniger als eine Stuhlbreite. Da ist aber eine Kluft. Sie verläuft entlang eines sehr unscharfen Begriffspaares: bildungsnah und bildungsfern.

Als die Elterninitiative „Kiezschule für alle“ im Sommer des Jahres 2012 zur Diskussion in die Karlsgarten-Schule einlädt, ist ein Thema: Wie können Förderkonzepte für die unterschiedlichen Bedürfnisse bildungsferner und bildungsorientierter Familien mit und ohne Migrationshintergrund aussehen?

Die Bildungsorientierten fragen sich: Wie können die Kinder voneinander profitieren? Können sie das überhaupt?

Eine Frage der Bücher

Die Begriffe bildungsnah und bildungsfern tauchen vor mehr als zehn Jahren auf. Damals untersuchen Forscher, wie sich das Elternhaus auf Leistungen auswirkt. Sie finden ein Maß, das mehr erklärt als der Bildungsabschluss der Eltern oder deren Gehaltsklasse: die Anzahl der Bücher im Haushalt. Schüler aus Haushalten mit mindestens zwei Regalen voller Bücher haben gegenüber Schülern in Haushalten mit weniger als einem Bücherbrett einen Wissensvorsprung von gut zwei Schuljahren.

Susann Worschech schließt gerade ihre Doktorarbeit über Demokratieförderung in der Ukraine ab. Zuletzt las sie „Eisenkinder“, ein Sachbuch über die Jugend der Wendegeneration. Zu Hause stehen in den Regalen etwa 800 Bücher. Worschech ist ein klarer Fall von Bildungsnähe.

Halit Kamali hat sein Studium nicht beendet und arbeitet für eine Hausverwaltung. Seine Bücher lagern in Kartons, ein paar stehen im Regal im Schlafzimmer. Früher habe er viel gelesen, alles von dem kurdischen Autor Yasar Kemal etwa. Zuletzt fehlte die Zeit. Ist Kamali jetzt bildungsfern oder bildungsnah?

Für beide steht außer Frage, dass ihre Töchter Abitur machen werden. „Auf jeden Fall“, sagt Worschech. „Ich werde schon dafür sorgen“, sagt Kamali.

Der Stadtforscher Sigmar Gude hat vor drei Jahren die Sozialstrukturentwicklung in Teilen von Neukölln untersucht. Er fragte die Leute unter anderem, was ihnen wichtig sei. „Bildung stand bei fast allen Eltern an erster Stelle.“ Auch bei jenen, die selbst kaum zur Schule gegangen seien, sagt Gude. „Eltern, die wenig Deutsch sprechen, wissen aber oft nicht, wie sie ihre Kinder am besten fördern können.“

Nachmittags im Motorikraum lernen alle zusammen. Aber in der Pause und in der Freizeit sortieren sich die Kinder wieder nach Elternhaus Bild: Anja Weber

Wer bestimmt die Regeln?

Auf der Liste der Elternvertreter ist jeder dritte Name deutsch. Unsere Bildungseltern, sagen Lehrer. Die hätten ruckzuck an zwei Wochenenden alle Horträume gestrichen. „Unsere türkischen und arabischen Eltern sind es gewohnt, sich rauszuhalten“, sagt eine Lehrerin. „Ja, wenn’s ums Backen geht, sind sie dabei.“ „Wir können nicht nur backen“, sagt Kamali im offenen Elterntreff. Seine Hand fährt in die Luft, die silberne Kette an seinem Arm klirrt. Wie Trottel würden Lehrer die türkischen Eltern mitunter behandeln. Er hebt die Stimme: „Sie verstehen. Ihr Kind. Morgen um acht Uhr. Schule.“ Klar, es sei schwierig gewesen, türkische oder arabische Eltern als Elternvertreter zu gewinnen. Aber man müsse den Weg eben etwas ebnen.

Sevil Tosun hat bereit Unterschriften für den Zebrastreifen gesammelt, zum Beginn des Schuljahres organisiert sie erneut eine Unterschriftensammlung mit. Eine Frau, die selbst nur fünf Jahre zur Schule ging, zwei Kinder und ihren Mann versorgt und für einen Stundenlohn von 1,50 Euro im offenen Elterntreff arbeitet. Als im Herbst die Stundenpläne verändert werden, geht sie auf die Barrikaden.

Eine Arbeitsgemeinschaft aus Eltern, Lehrern und Erziehern hatte seit dem Frühjahr beratschlagt, wie für die Kinder, die im Hort nachmittags Arbeitsgemeinschaften besuchen, mehr Zeit zum Mittagessen organisiert werden könnte. Das Ergebnis: Die Unterrichtszeit wird für alle um 10 Minuten verlängert. Vor allem Eltern der Kiezschulinitiative nahmen an den Sitzungen teil, ihre Kinder besuchen den Hort. Die Mehrheit der türkischen und arabischen Kinder geht um halb zwei nach Hause. Ihre Eltern erfahren von den neuen Stundenplänen erst, als sie in Kraft treten.

„Früher gab es hier keine Probleme. Erst als die kamen“, sagt Sevil Tosun im Windschatten des Schulhauses stehend, die Hände in den Manteltaschen vergraben.

Es ist ein Streit darum, wer die Regeln für wessen Alltag macht.

Die Idee von der Doppelspitze

In diese angespannte Zeit fällt der Termin der ersten Gesamtelternversammlung im September vergangenen Jahres. Kamali steht zur Wiederwahl. Aber Susann Worschech hat einen anderen Vorschlag: Sie will eine Doppelspitze mit Vertretern der neuen und der alten Eltern. Die Doppelspitze kennt sie von den Grünen. Da besteht sie in der Regel aus einem Mann und einer Frau. Weil es 50 Prozent Frauen in der Gesellschaft gibt, sollen sie auch die Hälfte der Führungspositionen bekommen, so die Logik. An der Karlsgarten-Schule kommen 15 Prozent der Schüler aus deutschen Familien. Unter den anderen 85 Prozent sind türkische, arabische, polnische, rumänische und bulgarische Kinder. Unter anderem.

Als Worschech am Abend der Versammlung den Konferenzraum betritt, fällt ihr auf, dass ungewöhnlich viele Eltern da sind. Sie stellt ihren Antrag vor und begründet ihn mit Kommunikationsproblemen und unterschiedlichen Bedürfnissen. Danach meldet sich Kamali zu Wort: Ja, es gebe Kommunikationsprobleme, aber die ließen sich so nicht lösen. „Für eine Doppelspitze stehe ich nicht zur Verfügung“, sagt er.

Es scheint in diesem Moment, als sei die Kluft zwischen den Eltern unüberbrückbar.

Im zweiten Stock der Karlsgarten-Schule geht die Tür zum Klassenraum der Gruppe 2.1 auf. Susann Worschechs Tochter Ella und ihre Freundin Madita drängeln sich gleichzeitig rein, ihre Jack-Wolfskin-Ranzen stoßen aneinander. Sie ziehen ihre Arbeitshefte heraus. Madita ihres für die erste, Ella das für die zweite Klasse. In der Karlsgarten-Schule werden die Klassen eins bis drei zusammen unterrichtet. Als Hausaufgabe musste Ella ein Rätsel schreiben. „Es ist ein Mensch. Es hat ein Pferd. Es sitzt auf einem Sattel“, liest sie vor. Christiane Fleischmann, ihre Lehrerin, lobt.

Neben dem Lehrertisch kniet ein Junge und liest gedehnt einzelne Wörter. Für Fleischmann ist es die Sternstunde des Tages. „Jetzt hat es tatsächlich klick gemacht“, sagt sie. Der Jüngste von acht Geschwistern, lernt in der dritten Klasse doch noch lesen.

Die Kinder sortieren sich nach Elternhaus

Man merke, wenn Eltern ihren Kindern vorlesen, sagt Fleischmann. „Diese Kinder kommen mit einem Vorsprung in die Schule, den die anderen kaum noch aufholen.“ Unfair sei das. „Aber wir als Schule können das nicht ausgleichen.“

Sie deutet auf einen türkischen Jungen aus, wie sie sagt, sehr, sehr schwierigen Verhältnissen. „Der kann alles“, sagt sie. „Aber er ist eine Ausnahme.“ Als die Pause beginnt, wartet Ella auf Ronja, Madita und Yasmin. Omur und Kevin sind schon auf den Hof gerannt. Die Kinder sortieren sich nach Elternhaus. Woran das liegt, kann Fleischmann nicht sagen. „Ich weiß auch nicht, warum sie noch nie zu einem Geburtstag eingeladen wurde und immer noch kaum Deutsch spricht“, sagt Fleischmann und zeigt auf ein Mädchen, dessen schwarzer Zopf fast bis zur Hüfte reicht. „Ist doch auch ein nettes, kluges Mädchen.“

Die Eltern der Kiezinitiative stellten sich vor, dass sich die Schule, wenn sie ihre Kinder dort anmelden, in einen Ort gelebter Integration verwandelt. Aber Unterschiede leben fort. Auch in ihren Kindern.

Susann Worschech beobachtet, dass ihre Tochter vor allem mit Kindern befreundet ist, die auch mal klettern gehen und eine Geo-Mini im Abo haben.

Am Geld liegt es nicht. Die Worschechs kommen gerade so über die Runden, vielen anderen Eltern aus der Kiezschulinitiative geht es ähnlich.

Auch die Herkunft ist nicht der entscheidende Faktor. Manche Kinder der Initiative haben einen türkischen Vater, andere eine libanesische Mutter.

Wichtiger scheint, was der Soziologe Pierre Bourdieu einst als kulturelles Kapital bezeichnete, dazu zählt auch Bildung. Es trennt die, die viel davon haben, von denen, die weniger haben.

Schritte der Annäherung

Dann gibt es aber doch wieder Momente, wie den warmen Tag im Spätsommer, an dem die Elternvertreter einer Klasse fragen, wer Lust auf ein Picknick hat. Frauen mit und ohne Kopftuch sitzen nach Unterrichtsschluss auf Decken im Park, während ihre Kinder spielen.

Erste Zeichen einer Annäherung.

In der Elternvertretersitzung, in der der Streit zwischen Susann Worschech und Halit Kamali eskaliert, wird am Ende die Doppelspitze abgelehnt. Die Kopftucheltern überstimmen die Studentenfraktion. Als Worschech anschließend direkt gegen Kamali antritt, verliert sie deutlich. Wird dann aber in den Vorstand gewählt.

„Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so auf den Schlips getreten fühlt“, sagt Susann Worschech.

„Die Mehrheit hat nun mal Migrationshintergrund. Das ist doch ein blödes Signal: Wir sind deutsch, wir sind da, wir wollen, wir können, wir kriegen“, sagt Halit Kamali.

Immerhin gibt es seit dem Streit in der Elternversammlung nun regelmäßige Vorstandstreffen, in denen sich neue und alte Eltern besprechen. Im Café Blume, dem Stammlokal der Kiezschulinitiative. Von den fünf Mitgliedern des Vorstands sind an diesem Winterabend drei erschienen: Halit Kamali bestellt ein Bier, Susann Worschech einen Ingwertee. Die dritte Frau nichts. Worschech teilt mehrere Seiten mit Argumenten für einen neuen Vorschlag zur Organisation des Schulhorts aus. Ihr Ingwertee wird kalt, während sie den Plan verteidigt. Kamali wärmt sein Bierglas mit beiden Händen und hält dagegen. Die andere Frau sagt kaum etwas.

Ein Schlagabtausch, doch der Ton hat sich verändert

Nach einer Stunde verabschieden sie sich, Kamali deutet eine kleine Verbeugung an und berührt Susann Worschech kurz am Ellenbogen, die streicht sich die Haare aus dem geröteten Gesicht.

Wer hat gewonnen? „Na ich“, sagt Worschech später und lacht. – „Ich hab Susann überzeugt“, sagt Kamali.

Die Treffen sind immer noch ein Schlagabtausch, aber etwas im Ton hat sich verändert.

„Jemand, der klare Kante zeigt, ist mir lieber als Muttis, die meinen, wir müssen uns alle liebhaben“, sagt Susann Worschech.

„Ich finde viele ihrer Ideen gut“, sagt Halit Kamali.

Noch anderthalb Schuljahre wird seine Tochter die Karlsgarten-Schule besuchen. Spätestens dann wird er den Vorsitz der Elternvertretung abgeben. „Dann brauchen wir auch keine doppelte Spitze mehr“, sagt er spöttisch.

Dann werden Eltern der Kiezinitiative die Elternvertretung übernehmen?

Sollen sie, sagt Halit Kamali.

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17 Kommentare

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  • B
    BionadeMama

    Leider geht der Artikel an den Realitäten der Karlsgartenschule vorbei: das Schema "Kopftuchmütter" vs. deutsche Bionade-Eltern ist in jeder Hinsicht unangemessen. Die Eltern der Kinder haben 1. sehr verschiedene kulturelle/ ideologische Hintergründe und 2. trennt das die Kinder nicht zwangsläufig wie hier leider behauptet wird. Wir haben unser Kind seit August auf der Schule, weil sie gut ist - und nicht, weil wir sie dadurch verbessern oder gar "retten" wollen, wie der Artikel suggeriert. Ich finde es peinlich, wenn Leute mit nichtdeutscher Herkunftssprache 1. unter bildungsfern und 2. unter "Kopftuchträgerinnen" subsumiert werden. Das reproduziert letztlich doch gelinde gesagt wieder bequeme Stereotypen. In diesem Fall kann man nur hoffen, dass nicht so viele Eltern lesen ;-))

  • K
    Klasse

    Mit kulturellem Kapital kann man dann wohl auch 800 Bücher, langes Studium bei gleichzeitiger Mutterschaft, den regelmäßigen Besuch im Café Blume und die Jackwolfskin-Ranzen der Kinder finanzieren, nicht?

  • R
    Realsatire

    "...es zogen immer mehr Deutsche zu..... Deshalb ist er vor acht Jahren nach Neukölln gezogen. „Hier fängt es mittlerweile auch schon an.“"

    Und das in Deutschland. Unfreiwillige Realsatire in der taz.

  • Wıe schafft es eın 40jaehrıger, 'ein Jahr lang fast jeden Vormittag mit seiner Tochter in die Klasse' zu kommen? Beneıdenswerte Zeıt-Freıheıt!

     

    Und wıeso ıst es eıgentlıch 'unfaır', dass manche Kınder eınen Vorsprung habenö weıl man sıe zeıtıg an das Medıum Buch heranführt, statt das TV 24 h laufen zu lassen? Der Vorteıl durch das Vorlesen ıst nıcht an dıe gelesene Sprache gebunden.

    Dıe Helene-Nathan-Bıblıothek, ca. 10 Fuszmınuten von der Karlsgartenschule entfernt, hat auch türkıschsprachıge Kınderbücher - aber vorlesen wollen muessen dıe Eltern schon selbst!

    • @Jan Engelstädter:

      Es ist unfair aus der Perspektive heraus die zählt: Die der Kinder.

  • D
    D.J.

    In Migrantenfamilien (weit mehr noch als in anderen) gibt es nach meiner Erfahrung eine starke Korrelation zwischen Berufstätigkeit der Mütter und Teilhabemöglichkeit der Kinder. Nehme übrigens daher den Sozis besonders übel, dass sie die "Herdpämie" letztlich akzepiert haben.

  • Oh, schöner Artikel. Aber irgendwie verschenkt, solange das zugrundeliegende Problem nicht erwähnt werden darf. Ein guter Ansatz ist: "Sie finden ein Maß, das mehr erklärt als der Bildungsabschluss der Eltern oder deren Gehaltsklasse: die Anzahl der Bücher im Haushalt.", aber den dem widerum zugrundeliegenden Unterschied zwischen weltoffen/pluralistisch/wissenschaftlich und ideologisch/irrationalistisch/religionsreaktionär kann politisch korrekt nicht sein: da wird dann lieber 'Kopftuch' oder Migrationshintergrund vorgeschoben, was natürlich Quatsch ist.

    • @OskarsAristie:

      Was ist eigentlich mit Kindern, deren Eltern viele Bücher von Glanzlichtern der Kultur wie Dieter Bohlen oder Frau Katzenberger im Regal stehen haben?

      • @anteater:

        Die können auf jeden Fall lesen, die Eltern zeigen ja, dass es Spass macht.

  • D
    dk-dud

    Guter Artikel, Kompliment Frau Lehmann!

    Das Dumme ist, dass den beiden Protogonisten die Zeit fehlt, einen Common Sense zu finden.

  • Mir wäre das zu stressig, nein Danke.

     

    Schade, dass die Kinder zu wenig zu Wort gekommen sind.

  • S
    Stev

    Ist doch mal ein guter Artikel. Gut beschreibend, ausreichend Distanz zu den Beteiligten, nicht wertend und den Leser belehren wollend, wie in viel zu vielen taz-Artikeln. So geht Journalismus :) Dem Leser ist durchaus zuzumuten, sich seine Meinung selber zu bilden.

    • C
      chrischu
      @Stev:

      dem stimme ich auch zu - guter Journalismus!!

    • @Stev:

      Das stimmt, das hat mir auch gefallen.

  • B
    Brandt

    Ein feines Stück Propaganda für die Bildungsideologie. Es ist nicht so sehr das kulturelle Kapital, dass die Positionierung von Menschen festlegt, sondern das Gewebe aus Institutionen und um diese herum gesponnenden Narrativen, die Menschen Rollen und Aufgaben zuweisen.

     

    Bildung ist Teil der Makroökonomie. Die Rolle der Kinder in den transnationalen Familien ist die Reproduktion makroökonomischer Versicherungen gegen Erdbeben, Flut, Konjunkturzyklen, Währungsverfall und politische Krisen über den Mechanismus transnationale Familiensolidarität. Migrantische Rücküberweisungen sind letzten Endes eines der wichtigsten Quellen für Währungsstabilität, Regimestabilität etc. Die Reichstumsproduktion im globalen Kapitalismus funktioniert nicht ohne diese informelle Versicherung. Entwicklungshilfe und unvollständige Kapitalmärkte bieten keinen Ersatz.

     

    Daher sollte die Funktion der Bildungsinstitutionen sein gerade die aggregierte Lohnsumme der transnationalen Familien so zusammen zu setzen, dass die Einkommen aus möglichst krisensicheren Berufen kommt - bei denen die Risiko-Fluktuationen antizyklisch zu den Business-Zyklen in den Ein- und Auswanderungsregionen sein sollten. Die transnationale Familie als informelle makroökonomische Versicherung für den Welthandel arbeitet dann optimal.

     

    Die Aufgabe der Bildungspolitik für transnationale Familien ist die Integration in die makroökonomischen Funktionen für die Weltwirtschaft. Standortnationalismus greift hier zu kurz. Der Konflikt mit den bildungsnahen Biodeutschen ist unnütz.

    • R
      Rumburak
      @Brandt:

      Was soll dieser Systemtheorieschreib nur für einen Inhalt transportieren? Was ist die Funktion von einem Text? Einer Leserschaft einen Inhalt zu vermitteln oder doch eher dem Leser einen Eindruck über die vermeindliche geistige Größe des Erzeugers auf zu drängen?

    • @Brandt:

      Was? Den Zusammenhang zwischen dem Artikel und Ihrem Kommentar kann ich nur mit viel Phantasie herstellen. Dafür klingt Ihr Kommentar super gebildet und hochtrabend.