Analyse EU-Streit um Juncker: Ergötzliche Gedankenspiele
Angela Merkel hat als Machtzentrum der EU alle Hände voll zu tun. Sie will Juncker als Kommissionspräsident, aber auch die Briten nicht vergraulen.
BERLIN taz | Wenn man eine sehr eigene Meinung hat, kann diese vielen anderen durchaus unangenehm aufstoßen. So jedenfalls ergeht es dem britischen Premierminister David Cameron. Er gilt als der ausgemachte Bösewicht, weil er sich seit Wochen der Nominierung des erfolgreichen Spitzenkandidaten bei der Europawahl für den Posten des Kommissionspräsidenten der EU widersetzt.
Jean-Claude Juncker ist in den Augen des Briten nicht geeignet, die institutionellen Veränderungen in die Wege zu leiten, die es Cameron erlauben würden, in Großbritannien bei einem Referendum über den Verbleib des Landes in der EU zu bestehen. Das will er ja spätestens 2017 abhalten.
Zuallererst gilt einmal, dass Cameron jedes Recht hat, seine Meinung klipp und klar zu sagen. Desweiteren gilt, dass Cameron nie für Juncker als Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP) votiert hat, weil seine Tories dieser Fraktion gar nicht angehören. Er hat von Anfang an klar gesagt, dass er – im Gegenteil – alles tun werde, um Juncker zu verhindern, weil er sonst in seinem Lande wie ein begossener Pudel dastehen würde.
Nun hat auch in dieser Zeitung der Grünen-Veteran Daniel Cohn-Bendit verlangt, die britischen „Extrawürste“ müssten ein Ende haben. Wenn Cameron es denn so wolle, dann solle Großbritannien eben nach einem Referendum die EU verlassen. Die Briten würden schon noch merken, was ihnen damit entgehe. Dem tritt die Kanzlerin zu Recht und mit Verve entgegen. Es wäre politisch ein sehr negatives Signal, wenn ein so bedeutender Staat wie Großbritannien die Gemeinschaft verlassen würde.
Die Verträge sind auf Camerons Seite
Insbesondere die dauerhafte wirtschaftliche und politische Schwäche Frankreichs lassen Merkel die Nähe zu Großbritannien suchen, das eben auch für Haushaltskonsolidierung, einen freien Binnemarkt und soziale Beschränkungen eintritt. Für Merkel kommt es mit einer neuen EU-Kommission durchaus darauf an, sich einer Lockerung der Haushaltsdiziplin oder gar neuer Schuldenmacherei entschieden zu widersetzen. Da sieht sie eben ihre Verbündeten in Großbritannien, Schweden und den Niederlanden.
In der Debatte um die Nominierung des EU-Kommissionschefs hat der Brite Cameron noch in einem anderen Punkt die Statuten auf seiner Seite. Es gibt keine einzige Erklärung in irgendeinem Vertrag, der besagt, dass ein Spitzenkandidat, wie er von den Parteien nominiert wurde, auch neuer EU-Kommissionspräsident werden müsste. Dies ist zwar eine Invektive, die das EU-Parlament bekräftigt hat, eine juristische Grundlage dafür fehlt jedoch. Von daher kann man die Forderung, dass nur einer der Spitzenkandidaten auch EU-Kommissionspräsident werden kann, durchaus auch als Usurpation von Macht lesen, die dem Parlament gar nicht zukommt.
Die Verträge besagen zwar, dass das EU-Parlament den Kommissionspräsidenten bestätigen, beziehungsweise wählen muss. Aber die Verträge verlangen ebenso eindeutig, dass der Vorschlag hierfür vom Europäischen Rat, also den Regierungschefs, mit qualifizierter Mehrheit getroffen wird. Die Regierungschefs sollen dabei die Ergebnisse der Europawahl „berücksichtigen“ – ein zumindest breit interpretierbarer Begriff.
Als gewählte Vertreter ihrer Staaten können sich die Regierungschefs im übrigen auf eine mindestens ähnliche demokratische Legitimierung berufen wie die gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Gerne wird dabei auch noch darauf hingewiesen, dass die Wahlbeteiligung bei Nationalwahlen deutlich höher ausfalle als bei der Europawahl.
Kompromisse auf allen Seiten
Nun hat sich die Bundeskanzlerin Merkel als das unbestrittene Machtzentrum im Europäischen Rat nach einigem Hin und Her und auch nachvollziehbarem Zögern für Juncker als Kommissionspräsidenten stark gemacht. Sie hat dabei – völlig zurecht – zugleich darauf verwiesen, dass die Personalentscheidungen im „europäischen Geiste“ getroffen werden sollten.
Im besten Falle ist darunter zu verstehen, dass erst sowohl inhaltliche Schwerpunktefür die Arbeit der Kommission formuliert werden als auch ein Gesamtpaket, dass die Vergabe der wichtigsten Posten auf der obersten EU-Ebene im Einvernehmen zwischen den Regierungschefs unter Einschluss der Wünsche des Parlaments getroffen wird. Dazu bedarf es gewiefter Arithmetik.
Es gehört zu diesem politischen Spiel, dass von interessierter Seite immer wieder Gerüchte gestreut werden, wie die Entscheidungen ausfallen könnten. Man kann sich daran beteiligen und sie als ergötzliches intellektuelles Gedankenspiel vor sich hin spinnen. Wenn Merkel beispielsweise von allen Beteiligten Kompromisse verlangt, dann könne das ja viel heißen. Zuvörderst käme ja auch ein Verzicht Junckers auf seine Kandidatur in Frage. Er müsste dann natürlich anderweitig belohnt werden.
Oder auch umgekehrt: Cameron verzichtet auf seinen Widerstand gegen Juncker, müsste dafür aber zu Hause dann noch Nennenswertes an Posten und Einfluss vorweisen können. Die Gespräche laufen ja derzeit in viele Richtungen, die Regierungschefs sind auf Reisen in die europäischen Hauptstädte. Und zum Gipfeltreffen Ende des Monats soll dann EU-Präsident Herman van Rompuy ein abgestimtes Tableau vorlegen.
Gedehnte Kompromissfähigkeit
Eine deutsche Besonderheit gilt es in diesem europäischen Besetzungsmarathon auch noch zu berücksichtigen. Nachdem der Sozialdemokrat Martin Schulz ein passables Ergebnis erzielt hat, hofft die Sozialdemokratie auf entsprechende Berücksichtigung ihres Vorzeigekandidaten im europäischen Personalkarussell. Doch diesem Ansinnen hat Merkel bisher keinerlei Beachtung gezollt. Eher im Gegenteil. Sie schien an ihrem Energiekommissar Oettinger festhalten oder doch zumindest einen Kandidaten aus den eigenen Reihen platzieren zu wollen.
Um die Koalitionäre in Berlin nicht allzu sehr zu vergraulen, könnte Schulz auf volle fünf Jahre Präsident des EU-Parlaments werden. Einen solchen Deal müsste natürlich die stärkste Faktion, die EVP, absegnen. Dass Schulz doch noch einen Kommissarsposten ergattert, gilt bei der derzeitigen Gemengelage als ziemlich unwahrscheinlich.
Unbestritten ist, dass die Kompromissfähigkeit der europäischen Führungspersönlichkeiten in den kommenden Wochen bis zum Äußersten gedehnt werden wird. Es ist aber nun einmal ihre Aufgabe und ihre Verantwortung, die entscheidenden Weichen für das Gelingen des europäischen Projektes in die Wege zu leiten. Vor und in der Krise haben sie sich dabei wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert.
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